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Forscher sichern Nigerias Kultur

Gwendolin Hilse22. Oktober 2015

Die Terrormiliz Boko Haram entführt, mordet und terrorisiert Menschen in Nigeria und seinen Nachbarstaaten - und zerstört Kulturgüter wie Musik. Ein deutsch-nigerianisches Forscherteam will diese Schätze bewahren.

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Musikinstrumente im Center for World Music in Hildesheim (Foto: DW/G.Hilse)
Bild: DW/G.Hilse

Hier, in einer alten Kirche in einer kleinen Seitenstraße im beschaulichen Hildesheim im Norden Deutschlands, lagern die Musikschätze der Welt: Über 3.000 Musikinstrumente und rund 40.000 Tonträger mit Klängen aus Teheran über Kairo bis nach Westafrika werden hier im "Center for World Music" vor dem Vergessen bewahrt.

Das Team um Musikethnologen Raimund Vogels baut hier ein digitales Klangarchiv auf. Zusammen mit seinen nigerianischen Kollegen Hajara Njidda und Christopher Mtaku arbeitet der Forscher auch daran, nigerianische Oralliteratur und traditionelle Musik im heutigen Bornostaat zu archivieren: Sie sichern beispielsweise Beerdigungs- und Hochzeitsgesänge sowie mündlich überlieferte Heldensagen.

Seit über 20 Jahren reisen die Wissenschaftler auf der Suche nach neuen Klängen und Gesängen durch die Dörfer der Region. Etwa 1.000 Stunden Ton-, Video- und Interviewmaterial haben sie bisher gesammelt.

Arbeiten unter Lebensgefahr

Doch im Nordosten Nigerias bedeutet wissenschaftliches Arbeiten in diesen Tagen auch, unter Lebensgefahr zu arbeiten. "Man muss sehr vorsichtig sein", sagt Forscherin Njidda und senkt den Blick. "Die Arbeit mit Musik ist hier zurzeit ein sehr sensibles Thema."

Die Universitätsstadt Maiduguri gilt als Geburtsstätte der islamistischen Sekte Boko Haram, zu Deutsch "westliche Bildung ist eine Sünde". Seit 2009 greift die Terrormiliz regelmäßig Schulen, Universitäten, Lehrer und Schüler an. Sie verbrennen Bücher, Musikinstrumente und alles, was in den Augen der Islamisten "heidnisch" ist. Auch vor Emir-Palästen und traditionellen Herrscherhöfen machen die Terroristen nicht halt.

Njidda arbeitet für die nationale Kulturstiftung und hat dort selbst eine kleine Sammlung an Musikinstrumenten für ihr Institut angelegt. Für ihre Arbeit reist die Musikethnologin regelmäßig ins Hinterland - oft begleitet sie ein unbehagliches Gefühl, wie sie im DW-Gespräch erzählt. Nicht nur eine prekäre Sicherheitslage, sondern auch Ausgangsperren, marode Straßen oder gekappte Funkmasten erschweren die Arbeit zunehmend.

Christopher Mtaku vor einem Laptop mit Aufnahmen aus Nigeria (Foto: DW/G. Hilse)
Forscher Mtaku katalogisiert Videoszenen, die er in Nigeria aufgenommen hatBild: DW/G.Hilse

"Wenn man immer wieder Spannungen spürt und man nicht weiß, was als nächstes passiert, fällt es einem schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren", sagt Mtaku, der am Institut für Darstellende Künste an der Universität Maiduguri unterrichtet. Er ist dankbar für die Möglichkeit, in Deutschland forschen zu können. "Hier kann ich mich in Ruhe auf meine Arbeit konzentrieren."

Für seine Promotion am "Center for World Music" hat er den Wandel des Instruments Tsinza, einem regionalen Xylophon, untersucht. Das Tsinza wurde ursprünglich für traditionelle Beerdigungsmusik eingesetzt, um mit der Seele des Verstorbenen zu kommunizieren - jüngere Generationen spielen es nun auch auf Hochzeiten oder benutzen es als Klingelton auf dem Mobiltelefon.

Die Wissenschaftler kennen sich seit Vogels erstem Forschungsaufenthalt in Nordostnigeria 1988 und arbeiten seitdem zusammen. Schon seit sechs Jahren kommen Mtaku und Njidda regelmäßig nach Hildesheim, um hier zu arbeiten und forschen. Möglich macht das eine Kooperation der beiden Universitäten. Njidda und Mtaku sind die ersten Doktoranden, die diese Verbindung hervorgebracht hat.

Musikalische Vielfalt in Borno

Für Vogels, der über Musik an Herrscherhöfen in Nordnigeria habilitierte, ist die Region um Maiduguri von großem Forschungsinteresse. Eine Besonderheit sei die Vielfalt musikalischer Stile. "Der Staat Borno ist durch seine geografische Lage eine kulturelle Drehscheibe, an der sich unglaublich viel mischt", erklärt der Professor für Musikethnologie.

Hajara Njidda, Christopher Mtaku und Raimund Vogels (Foto: DW/G.Hilse)
Njidda, Mtaku und Vogels (von links nach rechts) arbeiten schon seit 1988 zusammenBild: DW/G.Hilse

Nigeria ist ein Vielvölkerstaat mit über 400 Sprachen, der historisch und kulturell durch Transsahara- und Sklavenhandel, Islamisierung und christliche Missionierung geprägt wurde, so der Forscher. "Diese ganze Mixtur macht dann am Ende doch so etwas wie eine spezifische nordnigerianische Situation aus, die sich auch in der Musik ablesen lässt."

Neben einem digitalen Klangarchiv in Hildesheim entsteht auch eine Onlineplattform mit Zeitschriften und Büchern, auf die die Kollegen in Maiduguri Zugriff haben sollen. "Den Onlineserver können sie nicht so einfach in Brand stecken", sagt Vogels. "Und selbst wenn sie es schaffen sollten, dann haben wir hier in Deutschland digitale Kopien."

Vertriebenen einen Teil ihrer Kultur zurück geben

"Wie viele afrikanische Länder hat auch Nigeria eine reiche Oralliteratur, die bisher kaum dokumentiert wurde", sagt Mtaku. Der Forscher und seine Kollegen wollen diese mündlich überlieferten Geschichten archivieren und so für zukünftige Generationen zugänglich machen.

Bura Tsinza Musik

Die nigerianischen Forscher sehen ihre Arbeit vor allem auch als Chance, einen Teil der Geschichte und Kultur der Menschen im Staat Borno zu erhalten. "Als wir mit unserer Arbeit angefangen haben, hätte niemand gedacht, dass wir uns irgendwann in der heutigen Situation wiederfinden werden", sagt Mtaku. Die aktuelle Krise bestärke ihn nur noch mehr, seine Arbeit weiterzuführen.

"Die Arbeit der Forscher vor Ort ist wichtiger denn je", stimmt Vogels zu. Unzählige Musiker wurden getötet, Millionen Menschen vertrieben und ganze Dörfer stehen leer. Deshalb sei es wichtig, ihnen zumindest ihre eigene Musik als Teil ihrer Kultur zurückzugeben, so Mtaku. "Das wird ihnen helfen ihre Identitäten zu festigen - egal, wohin sie vertrieben wurden."