Das Rätsel der Flüchtlinge in Deutschland
23. Juni 2013"Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" - es ist ein kurzer Satz im Grundgesetz, um den sich in Deutschland vor zwei Jahrzehnten eine der emotionalsten Debatten in der Geschichte des Landes drehte. Mit seinem bis dahin liberalen Asylrecht war die Bundesrepublik zu einem Anziehungspunkt für Asylsuchende geworden: 1992, auf dem Höhepunkt des politischen Konflikts, suchten fast 440.000 Menschen in Deutschland Asyl. Nachdem im Juni 1993 ein deutlich eingeschränktes Asylrecht in Kraft getreten war, sank die Zahl der Bewerber in den Folgejahren wieder auf knapp 100.000.
Eine Frage der Statistik
20 Jahre nach dem "Asylkompromiss" zwischen den Parteien zählt Deutschland erneut zu den wichtigsten Aufnahmeländern von Menschen, die in Not geraten sind. In einer jüngst veröffentlichten Studie führt das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) die Bundesrepublik mit 585.000 Flüchtlingen nach Pakistan (1,6 Millionen) und Iran (868.000 Flüchtlinge) als drittgrößtes Aufnahmeland. Das hat allerdings weniger mit einer veränderten Asylpraxis als mit den Tücken der Statistik zu tun. "Hier in Deutschland zählen wir bei den rund 580.000 Menschen, die in unserer Statistik als Flüchtlinge in Deutschland aufgeführt sind, anerkannte Flüchtlinge, aber auch jene viele Menschen, die in den letzten Jahrzehnten in Deutschland durch ein Asylverfahren gelaufen sind, dort nicht akzeptiert wurden, aber dann doch einen humanitären Status bekommen haben", erklärt Stefan Telöken vom UNHCR in Deutschland. So führt die deutsche Statistik zum Beispiel neben Flüchtlingen aus aktuellen Krisengebieten auch mehr als 200.000 aus der ehemaligen Sowjetunion eingewanderte Juden, die bereits seit den 1990er Jahren hier leben.
Und doch ist auch heute noch der Wunsch vieler Flüchtlinge groß, in Deutschland Asyl zu finden. Mit rund 64.000 Asylbewerben 2012 liegt Deutschland weltweit nach den USA auf Platz zwei - vor Frankreich (55.000) und Schweden (44.000). "Deutschland hat eine lange Asyltradition, auf die es stolz sein kann", so Stefan Telöken. Dabei überrascht auch dieser Blick in die Statistik: Nicht aus den Krisenregionen Afrikas kamen die meisten Asylbewerber nach Deutschland, sondern aus Serbien. Auf Platz zwei und drei folgen Afghanistan und Syrien.
Die Hauptlast tragen Entwicklungsländer
Weltweit waren im vergangenen Jahr nach UNHCR-Berechnungen mehr als 45 Millionen Menschen auf der Flucht oder wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Die meisten von ihnen überquerten dabei allerdings keine Grenzen: Mit fast 29 Millionen Menschen flüchtete die große Mehrheit innerhalb des Landes, 15,4 Millionen Menschen flüchteten ins Ausland. Von einem schwierigen Vergleich der Flüchtlingsstatistiken über die Aufnahmeländer spricht denn auch die Flüchtlingsbeauftragte von Amnesty International, Franziska Vilmar: "An vierter Steller der UNHCR-Liste steht Kenia. Mit fast genauso vielen Flüchtlingen wie Deutschland. Wenn man sich aber die Situation dort anschaut, dann leben im Flüchtlingslager Dadaab in einer riesigen Zeltstadt insgesamt 500.000 Flüchtlinge. Und die sind nicht zu vergleichen mit inzwischen hier anerkannten und integrierten Flüchtlingen in Deutschland, die sich hier ein normales Leben aufgebaut haben und immer noch in die Statistik fallen."
Die deutsche Rolle ganz auf verzehrte Statistiken zu reduzieren, greift allerdings auch zu kurz. Beispiel Syrien: Von Juli an werden 5000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien in der Bundesrepublik aufgenommen, weitere 4000 sind bereits seit Jahresbeginn gekommen. Zusammen mit Schweden hat Deutschland damit in der EU fast zwei Drittel aller syrischen Flüchtlinge aufgenommen. Der Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, spricht von "einem wichtigen Zeichen". Und auch Amnesty International sieht Berlin hier als Vorbild für andere europäische Staaten. "Ich finde, dass sich Deutschland, dadurch dass es eine hohe Schutzquote gibt - nämlich 95 Prozent - durchaus auch eine Vorreiterrolle übernommen hat", freut sich die Flüchtlingsbeauftragte Vilmar, dass fast alle syrischen Flüchtlinge in Deutschland bleiben dürfen. Auch die Tatsache, dass Asylpolitik in Deutschland kein Wahlkampfthema mehr ist, sehen UNHCR und Amnesty positiv.
Ungewisse Zukunft
Wie sich die Flüchtlingszahlen in Deutschland in den kommenden Jahren entwickeln werden, ist dabei völlig unklar. Gerade erst haben sich die EU-Staaten auf einheitliche Standards für die Aufnahme von Asylbewerben verständigt. In den kommenden zwei Jahren muss dieser Kompromiss in die Praxis umgesetzt werden. Längerfristig dürfte dies auch Folgen für die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland haben. Asylbewerber müssen nach EU-Recht in dem EU-Land den Antrag auf Asyl stellen, dessen Boden sie zuerst betreten. Da die Einreise via Flughäfen in Deutschland schon heute statistisch keine Rolle spielt und die Bundesrepublik von EU-Staaten umgeben ist, dürften immer weniger Flüchtlinge deutsche Grenzen erreichen. Noch allerdings halten deutsche Gerichte zum Beispiel die Behandlungen von Flüchtlingen in Griechenland und Italien für so fragwürdig, dass derzeit keine Asylbewerber dorthin zurückgeschickt werden.