Finanzsanktionen gegen Taliban unmenschlich?
16. Februar 2022Hilfswerke schlagen Alarm: Die humanitäre Lage in Afghanistan verschlechtere sich dramatisch, dem Land drohe eine Hungersnot. In wenigen Monaten könnten bis zu 38 Millionen Menschen in Afghanistan - das sind rund 97 Prozent der Bevölkerung - unter der internationalen Armutsgrenze leben, sagt Ralph Achenbach, der Geschäftsführer der deutschen Sektion der humanitären Organisation "International Rescue Committee" (IRC), im Gespräch mit der DW.
Nach der Definition der Weltbank sind diese Personen nicht in der Lage, sich täglich die Menge an Gütern zu kaufen, die in den USA 1,90 US-Dollar kosten würden. Bereits jetzt sei über die Hälfte der Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen. "Die Menschen wissen also nicht, wo sie die nächste Mahlzeit herbekommen."
Auch Christian Schneider, der Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, warnt vor der wachsenden Armut und einem drohenden nationalen Notstand in Afghanistan. Die humanitäre Katastrophe treffe inzwischen 13 Millionen Kinder, schrieb Schneider vergangene Woche in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung".
"Menschengemachte Katastrophe"
Das IRC, dessen Projekte etwa in Syrien auch von der Bundesregierung unterstützt werden, appelliert nun an letztere, den wirtschaftlichen Kollaps in Afghanistan durch mehrere Maßnahmen zu verhindern. Unter anderem solle sie die in deutschen Banken eingefrorenen afghanischen Vermögenswerte freigeben; einen Runden Tisch mit den wichtigsten Geldgebern einsetzen, um langfristige Finanzierungsmechanismen zu entwickeln; die Weltbank und internationale Partner dazu auffordern, zugesagte Mittel von 1,2 Milliarden US-Dollar des Treuhandfonds für den Wiederaufbau Afghanistans (ARTF) auszuzahlen. Auch solle Berlin versuchen zu klären, ob sich die Sanktionen gegen Einzelpersonen oder gegen die gesamte Regierung der Taliban richten.
Die derzeitige Lage sei in vielerlei Hinsicht eine menschengemachte Katastrophe, begründet Ralph Achenbach im DW-Gespräch vom IRC den Appell. "Der wirtschaftliche Rückzug, der auf den militärischen Rückzug Ende August gefolgt ist, hat verheerende Auswirkungen auf die afghanische Volkswirtschaft und Bevölkerung. Dazu gehört das Einfrieren der Entwicklungshilfe, wodurch quasi 75 Prozent im Staatsbudget weggefallen sind." Darum könnten Ärzte, Lehrer und Beamte nicht mehr bezahlt werden.
"Das geht auch auf das Einfrieren afghanischer Vermögenswerte im Ausland inklusive in Europa zurück, was die Liquidität letztlich trockengelegt hat", ergänzt George Sebbunya, Programmdirektor des IRC in Afghanistan. "Die COVID-Pandemie und die Dürre - die schlimmste seit 27 Jahren - verschärfen die Lage zusätzlich."
"Bundesregierung setzt auf andere Wege"
Grundsätzlich sei die Überweisung von Hilfsgeldern nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich, sagt Aydan Özoğuz (SPD), Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags und in der Arbeitsgruppe Außenpolitik ihrer Fraktion für Afghanistan zuständig. "Es liegt auf der Hand, dass Deutschland der Taliban-Regierung überhaupt kein Geld direkt zukommen lassen kann. Denn dieses käme kaum dort an, wo wir uns das wünschen. Darum ist es undenkbar, dass ein Regime nach Art der Taliban Gelder aus Deutschland in Empfang nehmen und dann unkontrolliert verteilen sollte. Die Bundesregierung erkennt die Taliban-Regierung nicht an. Deshalb setzen wir auf andere Wege", so Özoğuz gegenüber der DW.
Diese Wege existierten bereits, so Özoğuz unter Verweis auf die großen Hilfsorganisationen. Tatsächlich hat Deutschland laut Auskunft des Auswärtigen Amts im Jahr 2021 rund 600 Millionen Euro für humanitäre Zwecke in Afghanistan zur Verfügung gestellt. Über Partnerorganisationen, zum Beispiel das Welternährungsprogramm (WFP) oder das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) komme die Hilfe den Menschen direkt zugute, so das AA auf seiner Website.
Zudem hat der von der Weltbank verwaltete Afghanistan Reconstruction Trust Fund (ARTF) im Dezember beschlossen, 280 Millionen Dollar der von ihm verwalteten Gelder an das Welternährungsprogramm (WFP) sowie UNICEF zu überweisen.
"Gelder an Hilfsorganisationen reichen nicht aus"
Tatsächlich verfügten Hilfsorganisation über viele effiziente und erprobte Mechanismen, die verhinderten, dass Finanzmittel in die falschen Hände gerieten, sagt Ralph Achenbach vom International Rescue Committee. Doch die verfügbaren Gelder reichten bei weitem nicht, die Not der Afghanen zu lindern. Darum habe das IRC seinen Appell lanciert. "Aus unserer Sicht ist es die moralische Pflicht des Westens, zu verhindern, dass durch Feinheiten der internationalen Diplomatie die Bevölkerung vor Ort als Geiseln gehalten wird." Vielmehr gelte es, das Leid der Menschen im Blick zu behalten und zu lindern.
Die Krise in Afghanistan lasse sich aber kaum durch Geld allein lösen, sagt Aydan Özoğuz. Das Land werde von einer in keiner Weise legitimierten Regierung beherrscht, die die Menschenrechte missachte und für die Katastrophe mitverantwortlich sei. "Wir können Not und Leid durch humanitäre Hilfe lindern", so Özoğuz. "Darüber hinaus versuchen wir durch Gespräche, wie sie in Oslo (mit den Taliban, Anm. d. Red.) gerade stattgefunden haben, bessere Lebensverhältnisse für die Menschen zu erreichen und eine Perspektive für das Land zu erarbeiten. Dafür ist aber die Sicherheit unserer Helfer vor Ort Voraussetzung."
"Funktionierende Banken und Märkte benötigt"
Hilfsorganisationen verfolgten einen ganz anderen, weniger politischen Ansatz, erklärt Ralph Achenbach. "Wir sind dem Prinzip der Unparteilichkeit verpflichtet. Wir helfen dort, wo Hilfe notwendig ist." Aus seiner Sicht stünden dieser Hilfe derzeit vor allem die wirtschaftlichen Einschränkungen im Wege, die die Staatengemeinschaft dem Land auferlegt habe. "Humanitäre Hilfe allein kann weder die Gehälter im öffentlichen Sektor Afghanistans noch eine intakte Wirtschaft ersetzen. Das afghanische Volk braucht funktionierende Banken und Märkte, um zu überleben", ergänzt Achenbach.
Westliche Staaten müssen deutlich machen, dass sie eine Machtübernahme nach Art der Taliban sowie deren systematische Menschenrechtsverletzungen nicht akzeptierten, ist dagegen Aydan Özoğuz überzeugt. "Darum kann es auch keine bedingungslosen Hilfen geben. Die Taliban müssen sich gesprächsoffen zeigen und einen Weg finden, an dessen Ende eine legitime Regierung für Afghanistan steht."