Das Mädchen Hirut
8. März 2015Äthiopien 1996: Die Schulglocke klingelt, Kinder stürmen ausgelassen aus dem Klassenraum. Die 14-jährige Hirut hüpft fröhlich über das offene Weideland. Es ist ihr täglicher Heimweg. Dann kippt die Situation. Bewaffnete Reiter folgen ihr, kreisen sie ein, schlagen sie nieder und sperren sie in eine strohbedeckte Lehmhütte. Was dann passiert, deutet der Film nur an, aber der Zuschauer weiß: In diesem Moment wird Hirut vergewaltigt.
Hiruts Geschichte, die Regisseur Zeresenay Berhane Mehari verfilmt hat, beruht auf einer wahren Begebenheit. Den Namen des Mädchens hat er zu ihrem Schutz geändert. In den ländlichen Regionen Äthiopiens gehört die "Telefa", eine Entführung und Vergewaltigung zwecks Eheschließung, zur Tradition. Mehari selbst kannte diese Tradition nur aus Berichten. "Als Kind wurden diese ländlichen Traditionen von mir ferngehalten", sagt er. Seine Familie stammt aus Addis Abeba. Es gab fließend Wasser, Elektrizität und Fernsehen. Nur drei Stunden sind es von Addis Abeba mit dem Auto in das Dorf, in dem sein Film "Das Mädchen Hirut" spielt.
Die Kluft zwischen Gesetz und Tradition
Es ist eine andere Welt. Die armen Bauern leben in Lehmhütten, ein Ältestenrat bestimmt über Recht und Unrecht. So auch im Fall Hirut. Denn dem Mädchen gelingt es, seinem Peiniger zu entkommen und dessen Jagdflinte mitzunehmen. Als die Männer ihr nachstellen, erschießt sie den Vergewaltiger. Auf Mord steht die Todesstrafe, und das soll auch für Hirut gelten. Als der Ältestenrat zusammentrifft, darf Hiruts Vater immerhin erklären, dass Hirut noch zu jung zum Heiraten sei und er deshalb nicht in die Ehe eingewilligt hätte. Der Ältestenrat beschließt, Hirut aus dem Dorf zu verbannen.
Vor Gericht wird der Mord natürlich offiziell verhandelt. Die Anwältin und Frauenrechtlerin Meaza Ashenafi will die Verteidigung übernehmen. Ein schwieriges Unterfangen, denn zuvor war noch nie ein Fall von Notwehr zugunsten einer Frau entschieden worden. Die echte Meaza Ashenafi lernte Regisseur Mehari in Addis Abbeba kennen. Sie erzählte ihm von ihrer NGO, die mittellose Frauen verteidigt und von Hiruts Präzedenzfall. "Der Fall von Hirut eröffnete erstmals überhaupt einen Dialog über diese Tradition und den Status der Frau in Äthiopien", sagt Mehari, der drei Jahre lang an dem Drehbuch arbeitete.
Zwangsehen auch in Deutschland
Realisiert wurde das Filmprojekt letztendlich auch mit finanzieller Unterstützung von UN-Botschafterin Angelina Jolie. Die amerikanische Schauspielerin kümmert sich mit ihrer Stiftung auch in eigenen Filmproduktionen um das Leid in Krisenregionen. Kooperationspartner sind darüber hinaus Amnesty International und Terre des Femmes. Terre des Femmes kämpft derzeit gerade verstärkt für die Abschaffung von Kinder-, Früh- und Zwangsehen. Weltweit leben 700 Millionen Frauen, die vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet wurden, 250 Millionen von ihnen waren zum Zeitpunkt der Heirat unter 15 Jahre alt. Vor allen Dingen in Südasien und südlich der Sahara in Afrika ist das ein großes Problem. "Wir müssen in diesen Gebieten für die Frauen kämpfen, aber wir müssen auch vor der eigenen Haustür gucken", sagt Monika Michell, Referentin für Gewalt im Namen der Ehre bei Terre des Femmes.
Ein Thema, auf das man auch zum Weltfrauentag hinweisen will. Nach einer Studie des Bundesfamilienministeriums von 2011 haben Schulen und Einrichtungen 3400 Fälle von Zwangsverheiratung in Deutschland gemeldet. Ein Drittel der Frauen waren minderjährig. Weit über 90 Prozent kommen aus Familien mit Migrationshintergrund. Erst als in Deutschland ein sogenannter "Ehrenmord" vor Gericht verhandelt wurde, gelangte das Thema ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Zwangsheirat wurde daraufhin vor Gericht als "besonders schwere Nötigung" behandelt. Das war 2005. "Erst seit Juli 2011 ist Zwangsheirat hier in Deutschland ein eigener Straftatbestand", sagt die Referentin Monika Michell. Das gelte allerdings nur für Eheschließungen vor dem Standesamt. Minderjährige Mädchen würden oft religiös oder sozial verheiratet, da sie offiziell noch gar nicht heiraten dürften.
Filmstart mit Hindernissen
In Äthiopien lag das Mindestheiratsalter noch bis 2001 bei 15 Jahren. Erst dann wurde es auf 18 Jahre angehoben. "Es gibt aber immer noch patriarchalische Traditionen, so dass Frauenraub auch immer noch stattfindet", weiß Monika Michell. Der Film "Das Mädchen Hirut" sollte in Äthiopien zunächst verboten werden. Schließlich kommt die Justizbehörde nicht gerade gut davon. Immer wieder eckt Anwältin Meaza Ashenafi an und muss gegen Bürokratie und Missachtung der Frauenrechte ankämpfen. Dann lief der Film aber doch in den Kinos und war in den ersten drei Wochen gleich komplett ausverkauft. Die äthiopische Regierung nutzte den Filmstart für eine öffentliche Kampagne gegen Kinderheirat.
Mut zum Widerstand
Regisseur Zeresenay Berhane Mehari hatte im Vorfeld diverse Angebote von Produzenten, die sein Drehbuch auf Englisch verfilmen wollten, doch ihm war es wichtig, den Film in Äthiopien auf Amharisch zu drehen. "Er sollte auch für die Menschen zugänglich sein, die tatsächlich in einer solchen Situation stecken und mit den veralteten Traditionen leben." Der Film besticht denn auch durch seine einfühlsame Realitätsnähe. Wenige Schauplätze, eindrucksvolle Bilder und einfach geschnittene Szenenabfolgen machen den Film auch für Außenstehende gut nachvollziehbar. Da verzeiht man auch kleine Sprünge, wenn etwa aus heiterem Himmel der Justizminister abgesetzt wird, was letztendlich den Weg für einen Freispruch von Hirut ebnet.
Der Film macht Mut, Widerstand zu leisten. Auch wenn am Ende klar wird, dass Hirut sich trotz Freispruch nicht frei fühlt. In ihr Dorf darf sie nicht zurückkehren, weil dort das Urteil des Ältestenrats gilt und ihr die Selbstjustiz droht. Vier Publikumspreise gewann "Das Mädchen Hirut" auf Filmfestivals, unter anderem im vergangenen Jahr bei der Berlinale und beim Sundance Festival. Hirut kämpft heute selbst gegen die "Telefa". Ihr Fall führte immerhin zum Verbot der Entführungen. Den Tätern drohen fünf Jahre Haft.