Mit Goethe gegen das Erbe des Kolonialismus
4. Juni 2020Das digitale Festival Latitude präsentiert über drei Tage ein Programm mit künstlerischen Beiträgen und Debatten. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie koloniale Strukturen bis in die Gegenwart wirken und überwunden werden können. Internet-Nutzer erreichen das Festival über die Homepage des Goethe-Instituts: www.goethe.de/latitude-festival.
Malcolm Ohanwe ist ein multimedial arbeitender Journalist. Mit Hörfunk- und Fernsehbeiträgen hat er die Lebensrealitäten von Minderheiten beleuchtet und über Rassismus berichtet. Beim Festival Latitude moderiert Ohanwe eine Videodebatte über die Zukunft des Internets.
Deutsche Welle: Herr Ohanwe, erhält das Festival Latitude des Goethe-Instituts, das die Folgen des Kolonialismus thematisiert, durch die tödliche Polizeigewalt an George Floyd in den USA eine traurige Aktualität?
Malcolm Ohanwe: Was da in den USA geschieht, ist die Konsequenz aus kolonialen Strukturen. Kolonialismus ist irreversibel, die Schäden lassen sich nicht über Nacht beheben. Man kann höchstens versuchen, mit ihnen umzugehen. Das ist vergleichbar mit einer Wunde, von der eine Narbe bleibt, die manchmal mehr, manchmal weniger hässlich aussieht. Hier zeigt sie - mit der Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten - ihre hässliche Fratze. Sichtbar wird das aber auch in allen anderen westlichen Gesellschaften, die eine Schwarze Minderheit haben.
Deutschland führt seit einiger Zeit eine Debatte über die Rückgabe kolonialer Raubkunst. Auch um Wiedergutmachung geht es, dort, wo deutsche Kolonialherren Verbrechen begangen haben, wie etwa am Volk der Herero im heutigen Namibia. Wo hat die Kolonialzeit in Deutschland Spuren hinterlassen?
Wir sehen diese Spuren bei so vermeintlich trivialen Dingen wie Straßennamen. Aber ebenso in der Sprache oder den Sprachbildern, die wir benutzen. Im Gymnasium hatte ich den Diercke Weltatlas (Schulatlas, der seit 1883 in deutschen Schulen verwendet wird und seitdem im Westermann-Verlag erscheint/Anm.d.R.). Darin war von "Menschenrassen" die Rede. Sehr viel von dieser Rassentheorie geht auf selbsternannte Anthropologen zurück, die ihre haltlosen rassistischen Gedanken verwissenschaftlicht und pseudointellektualisiert haben. Dieses Gedankengut herrscht noch immer: Es gibt sehr viele Menschen in Deutschland, die glauben, es gebe signifikante genetische Unterschiede, die sich an der Hautfarbe erkennen lassen. Das alles ist auf koloniale Strukturen zurückzuführen und noch nicht gut genug aufgearbeitet. Es gibt keine Erinnerungskultur in Sachen biologistischem Rassismus. Man hat noch nicht gelernt, warum diese Sachen falsch und gefährlich sind und warum es so wichtig ist, das im Keim zu ersticken.
Woran denken Sie beispielsweise?
Das kann schon ein kleiner Kommentar sein wie 'schwarze Menschen können besonders gut tanzen'. Das erinnert daran, dass man Menschen aufgrund ihres Phänotyps (Äußeres Erscheinungsbild/Anm.d.R.) oder ihrer Hautfarbe in verschiedene Wertigkeiten eingestuft und sie deswegen verfolgt hat.
Als jemand mit dunkler Hautfarbe - spricht aus Ihnen auch persönliche Betroffenheit?
Spannende Frage, denn meine Hautfarbe ist eigentlich nicht dunkel, vermutlich habe ich die Durchschnitts-Hautfarbe dieser Welt. Dass ich hier als dunkel markiert bin und nicht als normal gelte, begleitet mich ständig. Als schwarze Person ist man damit täglich konfrontiert.
Beim digitalen Latitude Festival kümmern Sie sich um das Thema Internet. Wo trifft man im Netz Kolonialismus an und in welcher Form?
Interessanterweise zeigt das auch der Fall George Floyd. Wir sehen Dynamiken von Vereinnahmung und Unsichtbarmachung: Viele Diskurse und Ideen und Gedanken sind durch die sozialen Netzwerken mitten im Kapitalismus und im Mainstream angelangt - durch Firmen wie Netflix oder durch bekannte Künstler, die etwa den Black Lives Matter-Hashtag für sich entdeckt haben. Dabei geht unter, dass diese klugen Gedanken ursprünglich von mehrfach diskriminierten Personen wie etwa schwarzen Frauen stammen. Wer solche Hashtags benutzt, ohne dieser Identität anzugehören, macht den Ursprung vergessen. Oder die MeToo-Bewegung: Auch sie geht auf eine schwarze Frau zurück, was die wenigsten wissen. Aber wenn Du von allen Seiten diskriminiert wirst, dann ist dieser Kampf für Freiheit überlebensnotwendig. Diese Vereinnahmung funktioniert über koloniale Dynamiken, die weißen Personen und Stimmen den Vorrang gibt. Und dann gibt es ja noch diese Algorithmen, die auf Deine Hautfarbe zielen: Gesichtserkennungs-Apps funktionieren oft nicht bei Personen, die keine europäischen Gesichtszüge haben. Die Tatsache, dass viele Social-Media-Apps mit den binären Kategorien Mann und Frau arbeiten, ist auch eine Folge von Jahrhunderten weißer christlich-puritanischer Expansions-Politik, die differenzierte Gender-Identitäten auf der ganzen Welt eingestampft haben. Auch hier macht sich Kolonisierung bemerkbar.
Begünstigt das Internet Rassismus und Diskriminierung?
Ich glaube, das Internet kann es begünstigen, weil Menschen anonym Inhalte von sich geben können. Da kann sich Rassismus ungehindert ausbreiten und den Nährboden für Terrorismus bilden. Das zeigen die jüngsten Anschläge, deren Täter sich vorher in Internetforen vernetzt und über die Ideologie der weißen Vorherrschaft ausgetauscht haben.
Das Netz zu entkolonialisieren. Wie soll das funktionieren?
Wichtig sind zum Beispiel die Sprachen. Viele Apps sind nur in den großen kolonialen Sprachen zugänglich. Dadurch haben viele Menschen qua ihrer Muttersprache keinen Zugang zu Informationen. Man könnte also etwa künstliche Intelligenz für Übersetzungssprogramme einsetzen, damit künftig mehr Menschen Zugang zu Bildung bekommen. Das Internet ist schließlich ein Katalysator für Bildung. Darüber müssen Debatten geführt werden.
Wird die Welt nach diesem digitalen Goethe-Festival eine bessere Welt sein, eine weniger koloniale?
Diejenigen, die dabei sein werden jedenfalls, können Teil einer klügeren, augeklärteren und hoffentlich weniger kolonialen Welt werden.
Das Gespräch mit Malcolm Ohanwe führte Stefan Dege.