Ohne Daten keine Entwicklung
28. März 2018Lesen Sie diesen Artikel auf Englisch.
Man muss sich einfach nur ein Land auswählen - irgendeines, vielleicht eines, dessen Namen man nicht aussprechen kann - und dann stellt man sich vor, man sei der Präsident. In diesem Land brauchen jetzt die Menschen einer armen, ländlichen Region eine bessere Gesundheitsversorgung. Geld dafür gibt es. Im Haushaltsplan sind 12 Millionen Dollar aus dem Topf der Entwicklungshilfe für den Bau von Krankenhäusern eingeplant. Man kennt auch die Krankheiten, die die Menschen in dem Gebiet besonders quälen. Was man aber nicht weiß ist, wie viele Menschen dort leben. Trotzdem muss entschieden werden: Wie viele Krankenhäuser sollen gebaut werden - und wo?
Es ist nicht nur ein sorgloses Gedankenspiel - in der wirklichen Welt stehen viele Regierungen täglich vor solchen Problemen und müssen Entscheidungen fällen. Gute Lösungen sind aber ohne exakte Daten über die Bevölkerung nur schwer zu finden.
Rätselraten auf Regierungsebene
Fast die Hälfte der Staaten registrieren nicht vollständig die Geburten und Todesfälle ihrer Mitbürger. Sie wissen nicht, wie viele Menschen im Land leben, wo sie geboren wurden und wie alt sie sind. Und sie wissen nicht, wer warum stirbt.
Ohne umfassende Daten sind Regierungsentscheidungen häufig wie ein Stochern im Nebel. Wo sollen Straßen gebaut werden, wenn man nicht weiß, welche Dörfer miteinander verbunden werden müssen? Wie viele Lehrer sollen an der neuen Schule unterrichten, wenn man nicht weiß, wie viele Kinder die Schule zu Fuß erreichen können?
Im schlimmsten Fall entscheiden die Antworten auf solche Fragen über Leben und Tod. Beispiel Vorratshaltung. Man muss abschätzen können, welche Dörfer am meisten betroffen werden, wenn die Ernte im Folgejahr schlecht ausfallen sollte oder eine Dürre ausbricht. Nur so kann man berechnen, wie viel zusätzliches Getreide eine Hungersnot verhindern kann und wann mit der Bildung von Vorräten begonnen werden sollte.
Entwicklungsziele brauchen Datengrundlage
Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) warnt: Ungenügende Statistiken bremsen den menschlichen Fortschritt. So ein Bericht, der im Oktober letzten Jahres veröffentlicht wurde.
Ohne ausreichende Basisdaten dürfte es auch schwierig werden, die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinigen Nationen (Sustainable Development Goals, SDG) zu erreichen. Sie sollen für eine nachhaltige Entwicklung auf ökonomischer, sozialer sowie ökologischer Ebene sorgen. Ohne Daten ist aber die Politik nicht in der Lage, Ressourcen effizient einzusetzen.
Es gibt 244 Indikatoren, die messen wie weit man auf dem Weg ist, die SDG zu erreichen. Allerdings gibt es oft keine oder nur unvollständige Daten, um die meisten Indikatoren zu erstellen. Dazu gehören leicht zu ermittelnde Informationen, beispielsweise wie viel Land mit Wald bedeckt ist und auch Informationen, die schwerer zu ermitteln sind, beispielsweise wie viele Lebensmittelabfälle anfallen.
Zuverlässige Statistiken zu sammeln ist vor allem "Mittel zum Zweck", sagt die OECD-Politikanalystin Ida McDonnell. "Wenn sie wirklich wollen, dass es den Bürgern wirtschaftlich und sozial besser geht, wenn sie die finanziellen Ressourcen optimal lenken wollen, den internationalen Handel und Investitionen aus dem Ausland ankurbeln wollen, für eine leichtere Kreditaufnahme an internationalen Märkten sorgen möchten oder die Hilfe durch den Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank brauchen - dann benötigen sie grundlegende Statistiken."
Die ärmsten Länder haben die wenigsten Daten
Eine Nation in Zahlen darzustellen ist leichter gesagt als getan, betont Edith Rogenhofer, eine Kartierungsspezialistin der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" (MSF). "In vielen Ländern sind die Daten aus Volkszählungen einfach nicht sehr gut. Das liegt auch daran, dass solche Erhebungen ein enormer Aufwand an personellen und finanziellen Ressourcen bedeutet."
In den Ländern, die am dringendsten auf grundlegende Statistiken angewiesen sind, sind Daten oft am schwierigsten zu erheben. Nur 15 Prozent der afrikanischen Länder südlich der Sahara haben laut OECD-Bericht vollständig registrierte Daten über Geburten und Todesfälle. In Südasien haben immerhin etwa ein Drittel der Länder solche Statistiken. Vielen fehlt einfach die Infrastruktur und das Fachwissen, um die Genauigkeit der Daten zu gewährleisten.
"Wenn man einen halben Tag braucht, um das nächste Dorf zu erreichen, ist es nicht einfach, die Menschen in fünf Dörfern zu zählen", sagt Rogenhofer. "Sie brauchen die Ressourcen, sie brauchen Mitarbeiter, die dorthin gehen, und sie brauchen jemanden, der alle Daten kombiniert."
Kurzlebigkeit mancher Daten
In politisch instabilen Ländern ist es noch schwieriger. Wenn eine Regierung korrupt ist, kann es durchaus in ihrem Interesse sein, Daten zu ihren Gunsten zu manipulieren. Auch Kriege und extreme Wetterereignisse können Menschen zur Flucht zwingen, wodurch Statistiken schnell überholt sind. "Selbst wenn sie eine Volkszählung durchführen", sagt Rogenhofer, "sind die Menschen kurz darauf vielleicht nicht mehr da."
Ein Bericht der NGO Open Data Watch aus dem Jahr 2016 schätzt, dass künftig jährlich drei Milliarden US-Dollar (etwa 2,43 Milliarden EUR) an Entwicklungshilfe für statistische Systeme ausgegeben werden müssen - fünfmal so viel wie heute -, um den Bedarf an SDG-Daten in Entwicklungsländern zu decken.
Eine weitere Problematik bei der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen erläutert Zachary Mwangi, Generaldirektor des kenianischen Statistikbüros. "Die Indikatoren verlangen, dass wir alle Menschen erfassen. Das erfordert eine stärkere Aufschlüsselung der Daten." Oft können nationalen Daten aber nicht auf die lokale Ebene herunter gebrochen werden - auch nicht die SDG-Indikatoren, für die es Daten gibt. Der Grund: Landesweite Durchschnittswerte könnten regionale Ungleichheiten verschleiern. "In Kenia gibt es in und um die Hauptstadt Nairobi relativ wenig Armut", sagt Homi Kharas, Wirtschaftsberater bei der NGO World Data Lab. "Aber im Nordosten und in Teilen Westkenias bleibt die extreme Armut sehr hoch. Fortschritte sind zu langsam, um die Armut bis 2030 zu beenden."
Hilfe aus der Ferne
Nicht immer müssen Daten direkt vor Ort erhoben werden. So zählt die MSF-Mitarbeiterin Edith Rogenhofer Häuser in Flüchtlingslagern in Bangladesh von ihrem Büro in Wien aus - also aus 7000 Kilometer Entfernung. Sie benutzt Satellitenbilder von Unterkünften, um zu schätzen, wie viele Menschen in den Lagern leben. Die Hilfsorganisation nutzt die Daten dann, um humanitäre Hilfe zu organisieren und so Hilfsgüter wie Wasser oder Medizin dorthin zu leiten, wo sie am dringendsten benötigt werden.
"Flüchtlingslager sind nicht statisch", erklärt Rogenhofer. "Jeden Tag kommen Menschen an, Menschen gehen weg und Menschen bewegen sich innerhalb der Lager." Die Zahl der dort lebenden Menschen verändert sich also ständig. "Im Oktober haben wir 76.931 Häuser gezählt. Im Dezember waren es 109.820." Die Verfolgung von Menschenströmen vor Ort in den Lagern ist mühsam und oft ungenau. "Natürlich sieht man es mit eigenen Augen", sagt Rogenhofer, "aber es gibt da einfach zu viele Eindrück, es ist überwältigend."
In den letzten Jahren hat die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" auch Satellitendaten mit Informationen von Ethnologen vor Ort kombiniert, um in schwer zugänglichen Regionen Daten zu erheben. Es ist eine von vielen alternativen Datenquellen, die von den Entwicklungshelfern eingesetzt werden, wenn es keine offiziellen Statistiken gibt.
Big Data für Entwicklungshilfe
Auch das Potenzial von "Big Data" hat die Phantasie der Entwicklungshelfer angeregt. Ein UN-Pilotprojekt in Uganda zum Beispiel erfasst, welche öffentlichen Bedenken es in Bezug auf Entwicklungsfragen gibt. Dafür wurden Radiotelefon-Sendungen analysiert. In Bangladesch wurden Handy-Daten mit landwirtschaftlichen Informationen kombiniert, um die regionale Armut vorherzusagen.
In Namibia hat das Gesundheitsministerium ähnliche Datensätze zur Malariabekämpfung erhoben. Anhand von Mobiltelefonen wurde 2013 die Mobilität der Menschen verfolgt und Mückenbrutplätze wurden per Satellitenbilder kartiert. So konnte der Infektionszyklus unterbrochen werden, indem man Mückennetze an die 80.000 am stärksten gefährdeten Bürger verteilte.
"Mit Hilfe von Big Data kann man einen sehr zeitnahen Einblick bekommen", sagt McDonnell. "Aber: Die Daten müssen zusätzlich anhand formeller Datenerhebungen geprüft werden."