Fatih Akin beim Filmfest in Venedig
31. August 2014Es ist nur eine kurze Szene in dem über zweistündigen Film von Fatih Akin, und doch bringt sie auf den Punkt, um was es hier geht in Venedig: Ein Mann betritt irgendwo im Nahen Osten zu Beginn der 20er Jahre einen schmucklosen Hinterhof, in dem gerade ein Stummfilm auf eine Leinwand projiziert wird. Das Licht flackert, die Qualität der Bilder ist schlecht. Doch dem Publikum macht es nichts aus. Kinder, ganze Familien und Alte, sitzen gebannt vor der Leinwand und starren auf die stummen Bilder.
Gezeigt wird ein Film von Charlie Chaplin. Es wird viel gelacht. Doch dann wendet sich das Schicksal des Tramps: Sein kleiner Begleiter, ein Kind, wird entführt. Nach einigen Handgreiflichkeiten gelingt es Charlie, den Kleinen wieder in die Arme zu schließen. Das letzte Bild des Films zeigt die beiden in einer herzzerreißenden Szene, eng aneinandergeklammert, die Tränen fließen. Das Publikum ist begeistert.
Ein Film über das Tabuthema Armenier-Genozid
Fatih Akins "The Cut" handelt nicht von der Kraft des Kinos, die sich hier am Lido einmal mehr für elf Tage zeigt – und doch erzählt er auch von den Versprechungen der siebten Kunst. Er tut dies in dieser einen Szene sehr überzeugend, weil er über das Medium reflektiert und das mit der Handlung des Films verknüpft. Kunst und Leben finden in dieser Sequenz zueinander.
Zunächst ist "The Cut" ein Film über den Genozid an den Armeniern zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Er erzählt vom grausamen Morden an einem ganzen Volk, vom Schlachten und Töten durch die Türken und dabei spart nicht mit alptraumhaften Szenen.
Nazaret (Tahar Rahim) wird von seiner Familie getrennt und zur Arbeit in einem Steinbruch gezwungen. Schwer verletzt überlebt er als einziger ein Massaker an seinen Landsleuten. Seine Stimmbänder sind zerfetzt, sprechen kann er kaum noch. Doch ihm gelingt die Flucht. Fortan macht er sich auf die Suche nach seinen Zwillingstöchtern. Dieser Suche räumt der Film viel Zeit ein. Der Zuschauer begleitet Nazareth über viele Stationen im Nahen Osten, nach Kuba, bis in die USA.
"The Cut" und die Reise zur wahren Religion
Ein Thema, so Fatih Akin, sei dabei auch das Verhältnis seines Helden zur Religion. Nazareth verliere seinen Glauben. Doch tatsächlich verliere er nur den Glauben an die Riten der Kirchen. Dafür nähere er sich dem eigentlich Kern von Religion, Spiritualität und Hoffnung. Im Vorfeld von "The Cut" wurde viel über das Projekt berichtet. Akin greife in seinem Film das Tabuthema des Völkermords an den Armeniern auf - erstmals werde der Genozid auf großer Leinwand in einem Spielfilm behandelt. Von ultranationalistischen Gruppen in der Türkei erhielt der in Hamburg lebende Regisseur mit türkischen Wurzeln sogar Todesdrohungen. Nicht wegen „The Cut“, sondern weil Akin plante, den Mord an dem ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink zu verfilmen.
Doch auch "The Cut" dürfte offiziellen Stellen in der Türkei nicht gefallen. Der Film zeigt das barbarische Morden an den Armeniern, brutale Hinrichtungen und den qualvollen Tod vieler Menschen in einem Flüchtlingslager. Für Ankara ist das Thema nach wie vor ein Tabu. Dass "The Cut" in der Türkei gezeigt werden wird, darf daher bezweifelt werden. Fatih Akin hat mit seinem neuen Film Mut bewiesen. Er hat ein Thema aufgegriffen, von dem man auch heute noch viel zu wenig weiß.
Verhaltene Reaktionen in Venedig
All das sagt freilich wenig über die filmische Qualität eines solchen Werks aus. Erste Reaktionen beim Festival in Venedig fielen sehr verhalten aus. Dem Regisseur merkte man das bei einem ersten Auftritt vor der Weltpresse an. Diese kritischen Reaktionen seien aber nur ein kleiner Ausschnitt, so Akin. "Ich habe mich sieben bis acht Jahre mit dem Projekt beschäftigt und damit auch mit möglichen Reaktionen." Das sei nicht wichtig. Dass "The Cut" eher kühl aufgenommen wurde, lag wohl auch daran, dass er sich nicht so recht entscheiden kann zwischen einem historisch-politischen Film und einer genrehaft erzählten Geschichte seines Helden. Im zweiten Teil wird "The Cut" mehr und mehr zum Genrefilm, zum Roadmovie, zur Western-Hommage. Dadurch gerät er aus dem Gleichgewicht.
Fatih Akin ist ein Meister des emotionalen Erzählens, das hat er in seinen vergangenen Filmen bewiesen. Auch in "The Cut" gibt es großartige Szenen, die berühren. Ein durchaus bewegender Film über ein wichtiges historisches Thema. Dem pflichtete auch sein armenischer Darsteller Simon Abkarian in Venedig bei: "Dies ist der Film, auf den wir Armenier gewartet haben", so Abkarian.
Starke Themen - Starke Konkurrenz
Fatih Akin wird sich im Rennen um den Goldenen Löwen behaupten müssen gegen starke Konkurrenz. Da beeindruckte zunächst "99 Homes", eine US-Produktion über die Folgen der Weltwirtschaftskrise. Regisseur Ramin Bahrani erzählt von den Folgen, die der Zusammenbruch des Immobilienmarktes für die Menschen in Nordamerika hat. Sein Landsmann Joshua Oppenheimer zeigt in dem europäisch-indonesischen Dokumentarfilm "The Look of Silence", ein Kapitel aus dem indonesischen Bürgerkrieg in den 1960er Jahren, dem fast eine Millionen Menschen zum Opfer fielen. Und der italienische Beitrag "Anime Nere" ("Schwarze Seelen") blickt auf eine italienische Familie, die zwischen versöhnlichem Ehrenkodex und Mafiamachenschaften zerrieben wird. Drei beeindruckende Beiträge.
Private Geschichten weniger gefragt
Nicht ganz so gut kamen dagegen zwei Filme an, die persönliche Geschichten in den Vordergrund stellten. Benoit Jaquot erzählt in "3 Herzen" eine für das französische Kino schon klassische Geschichte um Liebe und Leidenschaft. Starkes Schauspielkino mit Charlotte Gainsbourg und Catherine Deneuve, doch im Vergleich zu den politischen Filmen weniger beeindruckend. Und auch Al Pacinos Auftritt in dem Film "Manglehorn" konnte nur teilweise überzeugen. Pacino, der hier den einer alten Liebe nachtrauernden Mann spielt, erdrückt den Film mit seiner übermächtigen Präsenz.
Insgesamt konnten die Beiträge beim Festival in Venedig in den ersten Tagen überzeugen. Wenn auch das eine große Meisterwerk noch nicht zu sehen war, so hinterlässt der Wettbewerb doch bisher einen recht starken Eindruck. Verändert hat sich in den letzten 100 Jahren, als Charlie Chaplin auf der Leinwand erschien und die Zuschauer zum Lachen und Weinen brachte, nicht wirklich viel. Das Kino, und das zeigen in Venedig viele Filme, ist immer noch eine große Emotionsmaschine mit Geschichten und Erzählungen aus dem wahren Leben.