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So überlebte Farhad Alsilo den "Islamischen Staat"

Christine Lehnen
10. Dezember 2021

In seinem Buch "Der Tag, an dem meine Kindheit endete" berichtet ein 19-Jähriger so eindrücklich wie offen von seiner Flucht. Im Flugzeug nach Deutschland weinte er Freudentränen.

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Autor Farhad Alsilo
Farhads Alsilos Kindheit endete als er 11 Jahre alt war und die IS-Miliz sein Dorf überfielBild: Privat

Als Kind schlief er aufgrund der Hitze auf dem Dach, um ein kühles Plätzchen zu haben. Heute lebt er in Stuttgart und macht sein Abitur: Farhad Alsilo ist kein gewöhnlicher Jugendlicher. Vor sieben Jahren musste er mit seiner jesidischen Familie aus dem Irak vor dem sogenannten "Islamischen Staat" (IS) fliehen. Nun hat der gerade einmal 19-jährige Autor ein Buch über seine Flucht und sein neues Leben in Deutschland geschrieben, das vor allem eines tut: Es macht Mut.

"Der Tag, an dem meine Kindheit endete" ist ein so eindrücklicher wie schlichter Bericht: Auf 150 Seiten berichtet Alsilo ungeschminkt und ohne Pathos davon, wie sich am 3. August 2014 sein Leben schlagartig veränderte. IS-Milizen drängen an diesem Tag in das jesidische Dorf, in dem Farhad Alsilo mit seiner Familie lebt. Der IS tötet vor seinen Augen den Vater und verschleppt seine Schwestern. Farhad Alsilo ist zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt. Auch ihm halten die Terroristen schon den Gewehrlauf an den Kopf, lassen dann aber im letzten Moment von ihm ab, da ihm noch kein Bart wächst.

Freudentränen bei der Ankunft in Deutschland

Mit seiner Mutter und Geschwistern flieht Alsilo durch die Wüste, mit einem Sonderflüchtlingskontingent des Landes Baden-Württemberg gelangen sie schließlich nach Stuttgart. Über seinen letzten Tag im Irak schreibt Alsilo im Buch: "Nach zwei Stunden, die vor Freude für mich wie zwei Minuten vergingen, kamen wir am Flughafen an. Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben ein Flugzeug, und es war für uns alle ein unglaublich schönes Gefühl in dem Flugzeug zu sitzen, das uns nach Deutschland bringen sollte." Den schlichten Worten ist die unbändige Freude anzumerken, wenn man auf den 70 Seiten zuvor miterlebt hat, wie viel Gewalt er im Irak erleben und bezeugen musste. Ganz offen berichtet Alsilo davon, dass er Freudentränen weinte, während er nach Deutschland reiste.

Buchcover "Der Tag an dem meine Kindheit endete" von Farhad Alsilo: ein Foto aus dem Irak, zwei Menschen stehen vor einem zerstörten Haus
Farhad Alsilos Erlebnisse sind im Berliner Trabanten-Verlag erschienen

Es ist diese ungekünstelte Ehrlichkeit, die "Der Tag, an dem meine Kindheit endete" so besonders macht. Und die Tatsache, dass es kein Bericht des Leidens bleibt: Alsilo berichtet davon, wie er in Deutschland zur Schule geht, die Sprache erlernt, sich einlebt, ein Teil der Gesellschaft wird. Im Videogespräch mit der DW erzählt er, dass es ihm ein großes Anliegen sei, Jugendlichen Hoffnung zu geben, ob mit seinem Buch oder bei seinen Auftritten in den sozialen Medien wie YouTube und TikTok: "Ich bin als 11-Jähriger nach Deutschland gekommen, als ein Junge, der noch kurz zuvor nicht wusste, ob er nicht jeden Moment umgebracht wird. Inzwischen mache ich Abitur, bin YouTuber und TikToker, habe Deutsch und Englisch gelernt. Alles ist möglich, solange man nur nicht aufgibt."

Seine Schwestern berichtet von IS-Gefangenschaft

Inzwischen ist Alsilo 19 Jahre alt. Er trägt eine schwarze Puffjacke und weiße kabellose Ohrstöpsel. Während des Videotelefonats sitzt Alsilo draußen auf einer Bank, umgeben von Hochhäusern. Äußerlich ist er von vielen anderen seiner Altersgenossen nicht zu unterscheiden, hat aber ganz Anderes erlebt. Wie es war, über die traumatisierenden Ereignisse seiner Kindheit zu schreiben, davon spricht er im Videotelefonat mit derselben eindrücklichen Offenheit, in der auch sein Buch verfasst ist: "Die ersten zwei Jahre wusste niemand etwas davon, da habe ich das nur für mich gemacht. Ich hatte dabei sehr schlimme Gefühle. Es gab Momente, an denen ich nicht weiterkam, keine Kraft mehr in meinen Fingern hatte. Wenn ich vor meinen Augen wieder gesehen habe, wie mein Vater umgebracht wird. Mir kamen öfters die Tränen oder ich habe geschwitzt. Es ist, als würde man das alles ein zweites Mal erleben."

Symbolbild: Gedenktag für Völkermord an Jesiden
Jesidische Kinder in einem Flüchtlingslager in Sindschar, Irak Bild: picture-alliance/dpa/A. Ayoubi

Trotzdem hielt er durch - auch, weil er wollte, dass seine Kinder einmal verstehen würden, wo er herkommt und warum er in Deutschland lebt. Und weil er sich vorgenommen hatte, das Buch zu schreiben. Alsilo ist ein zielstrebiger Mensch, das sagt er von sich selbst, so kenne ihn auch seine Familie, deren Berichte ebenfalls einen Teil des Buches ausmachen, genaugenommen das letzte Drittel. So schrieb er beispielsweise auch den Bericht seiner Schwestern Zaytun, Khalida, Waheeda und Khawla auf, die eine Zeit lang Gefangene des IS waren.

"Verbringt möglichst viel Zeit mit euren Liebsten"

Mit derselben Zielstrebigkeit, Hoffnung und Freude, mit der er sein Buch geschrieben hat, blickt Alsilo auch in die Zukunft: Als nächstes will er sein Abitur so gut wie möglich abschließen, dann studieren, und auch reisen. Sein Traumziel ist im Moment Dubai. Jedes Mal, wenn er ein Foto aus Dubai sieht, erzählt Alsilo, sehnt er sich dorthin.

Er möchte sich aber auch für die Jesiden und die Menschenrechte im Allgemeinen einsetzen. Alsilo engagiert sich in einem jesidischen Verein, er bittet Menschen, für die ethnisch-religiöse Minderheit zu spenden. Und darum, mehr Dankbarkeit zu spüren für das schöne Leben, das man hier lebt, statt sich immerzu über Kleinigkeiten aufzuregen. Vor allen Dingen ist ihm aber wichtig, dass die Menschen eines aus seinem Buch mitnehmen: "Ich möchte, dass alle so viel Zeit wie möglich mit ihren Liebsten verbringen - bevor es zu spät ist."

"Der Tag, an dem meine Kindheit endete" ist am 6.12.2021 im Trabanten-Verlag erschienen.