IS-Prozess: Ein "historischer Tag" für Jesiden
4. Juli 2019Die Frau in dem schwarzen Kleid hat Schlimmes erlebt. Sie ist erst 47 Jahre alt, aber wirkt deutlich älter. Die Jesidin verbirgt einen Teil ihres Gesichtes hinter einem Kopftuch, als sie vor dem Oberlandesgericht München erscheint. Um auszusagen, endlich auszusagen. Darüber, wie der sogenannte "Islamische Staat" ihre Familie auseinander gerissen hat. Wie sie immer wieder als Sklavin verkauft wurde, zusammen mit ihrer fünfjährigen Tochter.
Und vor allem darüber, wie ein IS-Kämpfer mit Namen Abu Maawi ihre Tochter in der sengenden Sonne angekettet hat. Weil sie ihr Bett eingenässt hatte. Sie will aussagen, wie niemand ihrer Tochter zu Hilfe kam, auch nicht die Frau von Abu Maawi. Und wie ihre Tochter schließlich qualvoll verdurstet ist.
Nora T. spricht am zehnten Verhandlungstag im Prozess gegen die IS-Rückkehrerin Jennifer W. . Die 28-jährige Deutsche ist unter anderem wegen Mordes und Kriegsverbrechen angeklagt. Auch, weil sie einem verdeckten Ermittler der Polizei bei einer Fahrt in einem verwanzten Auto erzählt hatte, wie unter ihrer Obhut eine fünfjährige jesidische Sklavin verdurstet sei. Genau so, wie Nora T. es erzählt. Das Gericht muss jetzt prüfen, ob Nora T. und ihre Tochter tatsächlich die Opfer von Jennifer W. sind.
Verdrängte Vergangenheit
Vier Tage hat der Vorsitzende Richter Reinhold Baier für die Aussage der jesidischen Mutter angesetzt. Vorsichtig und behutsam befragt er sie. Über ihre Eltern und Geschwister, über ihre Familie, über ihren Mann, ihre Heimat – und ihre Kinder. Immer wieder, wenn er nach der Tochter fragt, heißt die Antwort aber: "Ich kann mich nicht erinnern". Diese Antwort bekommt Baier auch, als er Nora T. danach fragt, wann denn ihre Tochter geboren wurde.
Gelegentlich kommt die Erinnerung zurück. Ihre Tochter sei "ein hübsches Mädchen" gewesen, berichtet die Jesidin an einer Stelle. Sie erinnert sich auch daran, wie sie einmal mit ihr wegen Durchfalls in ein Krankenhaus gefahren sei. Und ihr fällt ein, wie der Sklavenhalter ihrer Tochter den Namen "Rania" gegeben habe.
Nora T. erzählt, wie sie unter Zwang zum Islam konvertiert sei. Wie sie viermal am Tag mit der Hausherrin betete – und trotzdem vom Hausherrn als "Ungläubige" beschimpft und geschlagen worden sei. Genauso wie ihre Tochter.
Übersetzungsprobleme
Die Befragung ist zäh. Die Übersetzerin hat oft Mühe, die Jesidin zu verstehen. Das liegt nicht nur an ihrem kurdischen Dialekt Kurmandschi. Sie hat auch einen Sprachfehler. Warum sie den hat, sagt ihre Anwältin in einer Sitzungspause wissend, werde die weitere Befragung zeigen. Nora T. klingt jedenfalls, als habe sie keine Zähne.
Bei all dem sitzt Jennifer W. nur wenige Meter entfernt. Blicke tauschen die beiden nicht. Aber Jenifer W. hört aufmerksam zu. Mögliche Gefühle aber verbirgt sie hinter einer unbewegten Miene. Die Angeklagte trägt wie meistens im Prozess die Haare streng nach hinten gebunden, dazu ein schwarzes Sakko und eine weiße Bluse.
Sie wirkt eher wie eine angehende Bürokauffrau als eine Dschihadistin. Mittlerweile hat Jennifer W. selbst eine kleine Tochter. Gesagt hat die Angeklagte in diesem Prozess bisher allerdings kein Wort.
Ein bedeutender Prozess für die Jesiden
Nora T. wiederum ist nicht nur Zeugin in diesem Prozess. Sie ist auch Nebenklägerin. Aufmerksam auf Nora T. wurde die Bundesanwaltschaft erst, nachdem bereits Anklage gegen Jennifer W. erhoben worden war. Bis dahin lebte Nora T. im Nordirak. Dort hatte sie sich vor zwei Jahren in einem Flüchtlingscamp einer Mitarbeiterin der jesidischen Hilfsorganisatin Yazda anvertraut.
Die Erzählung habe sie erschüttert, berichtete die Mitarbeiterin im Juni als Zeugin in München. Als die Medien über die Anklage gegen Jennifer W. und den Fall des getöteten Kindes berichteten, habe sie die Verbindung zu Nora T. hergestellt – und Kontakt zur Justiz aufgenommen.
Unterstützt wird Nora T. von einem Team internationaler Anwälte, zu denen auch die prominente Menschenrechtsanwältin Amal Clooney gehört. Nach Angaben des Anwaltsteams werden in München zum ersten Mal weltweit die Verbrechen des IS gegen die Jesiden nach dem Völkerstrafrecht vor Gericht verhandelt.
Alle Jesiden weltweit schauten auf diesen Prozess, sagt die Yazda-Mitarbeiterin Natia Navrouzov der Deutschen Welle. Zwei junge Jesiden im Zuschauerraum bestätigen das. Die Frau und der Mann seien gekommen, weil dieser Prozesstag mit der Aussage der Mutter ein historischer Tag für ihr Volk sei.