Farbbeutel gegen mazedonische Regierung
24. April 2016Stefan ist müde, obwohl wir erst um 12 Uhr vor der Fakultät für Architektur verabredet sind. Seine Augen verraten, dass er seit Tagen nicht richtig geschlafen hat. Trotzdem nimmt er jeden Telefonanruf an. Ein neuer Protesttag hat begonnen, es gibt viel zu organisieren.
"Wir müssen das Material abholen", sagt er kurz. Und schon machen wir uns auf den Weg zur Schauspiel-Akademie, wo ein Kommilitone auf uns wartet. Man redet wenig, jeder weißt was zu tun ist. Die Schablonen liegen in einem Raum, die Sprays und der Leinenstoff in einem zweiten. Sein Handy klingelt schon wieder. Wo heute der Treffpunkt ist, will jemand wissen. "Wir treffen uns hinter der Fakultät für Architektur", antwortet Stefan.
Neue Energie in der Gesellschaft
Die Taxi-Fahrt dauert nur ein paar Minuten. Der Fahrer stellt keine Fragen. Er packt einfach alles ins Auto und fährt schweigend los. Ich habe den Eindruck, dass er genau weiß, wer seine Fahrgäste sind. Am Ziel angekommen, laden wir das Gepäck aus und warten. Innerhalb einer halben Stunde ist der Hof voll. Jeder bringt etwas mit: Farbe, Ballons, Spritzen. Das sind die erfinderischen Waffen der "Bunten Revolutionskämpfer", gespendet von Gleichgesinnten oder gekauft mit Spenden, die sie während der Demos gesammelt haben.
Die jungen Protestler sind müde. Sie tauschen Eindrücke der gestrigen Nacht aus, ihre Augen fangen an zu leuchten, die Diskussion wird schnell sehr emotional. Ob die Demonstration das Ziel erreicht hat? Wo hätte man etwas besser machen können? Wie lässt sich die Dynamik der Proteste aufrechterhalten? "Wir müssen ein Plakat über Toleranz schreiben", schlägt einer vor. "Ein Plakat mit einer ganz starken Botschaft, die jeder versteht", fügt ein anderer hinzu. "Die Menschen haben immer weniger Angst", meint ein dritter, "aber die Frage ist, wie wir diese neue Energie in der Gesellschaft nutzen können."
Fleckige Schuhe, fleckige Kleidung
Zwei Stunden vergehen, alle machen Vorschläge, doch die Debatte endet ohne Konsens. Es wird allerhöchste Zeit mit der Produktion der Farbbeutel zu beginnen. Die Aufgaben sind verteilt. Eine Gruppe füllt die Ballons mit Sand, eine zweite schüttet Farbe dazu. "Mit Sand fliegen die Ballons besser", sagen sie. Alle sind hoch konzentriert, arbeiten penibel.
Ihre Schuhe sind voller bunter Flecken, die Kleidung auch. "Meine Mutter hat Zweifel, dass sie die Flecken aus den Klamotten kriegt", sagt eine Studentin neben mir. Und fügt voller Stolz hinzu: "Ich habe ihr gesagt, dass ich sie auch mit Flecken tragen würde. Man muss sich für die 'Bunte Revolution' opfern." Dann füllt sie weiter Farbe in die Ballons, die dem grauen Alltag Mazedoniens ein wenig Kolorit geben sollen.
Aufruf zu weiteren Protesten
Zeit zum Essen bleibt nicht. Neben 200 Farbbomben, die bis 18 Uhr fertig sein sollen, wollen die Studenten noch hunderte Briefe mit Infos über die Staatsverschuldung und einem Aufruf zu weiteren Protesten in Umschläge verpacken. Es kommen immer mehr Jugendliche zur Verstärkung.
Die Atmosphäre unter den Protestlern bleibt ernst. So ernst wie die Lage im Krisenland. "Wir haben vergessen, wann wir das letzte mal eine Party veranstaltet haben oder ins Kino gegangen sind", stellt die junge Frau neben mir nüchtern fest. "Unser Leben ist das hier."
Gewaltloser Kampf für Veränderung
Solange der Wandel nicht vollzogen sei, blieben sie auf der Straße, sagen die Studenten. Da, wo sie von den anderen Demonstranten jeden Abend mit Freude empfangen werden. Weil sie die "Bunte Revolution" sind. Weil sie ohne Gewalt für Veränderungen im Land demonstrieren. Weil sie gegen gefälschte Wählerlisten bei den bevorstehenden Wahlen kämpfen und den Rücktritt des mazedonischen Staatschefs Gjorge Ivanov fordern.
18 Uhr: die Proteste starten wie üblich. Stefan samt Kameraden läuft in der ersten Reihe des Protestzuges. "Wir treffen uns nach der Demo", informiert mich Stefan. Es wird eine weitere lange Nacht.