Die Kosten der Zuwanderung
22. August 2016Die Zahl der Flüchtlinge
Nicht einmal die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland ist genau bekannt. Zwischen Anfang September 2015 und Ende Juli 2016 wurden 900.623 Menschen im Computersystem EASY registriert. EASY steht für "Erstverteilung der Asylbegehrenden".
Verlässlich ist die Zahl allerdings nicht, denn die Menschen werden anonym erfasst, ohne Namen oder Passnummern. Daher "können Fehl- und Doppelerfassungen nicht ausgeschlossen werden", so eine Sprecherin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zur DW.
"Leider ist es nicht möglich zu sagen, wie viele dieser registrierten Personen sich noch in Deutschland aufhalten, da keine personenbezogenen Daten erfasst werden", so die Sprecherin weiter.
Sicher ist zumindest, dass inzwischen weniger Migranten nach Deutschland kommen. Im Juni 2016 erfasste das EASY-System 16.300 Personen, im Januar waren es noch 91.600.
Trotzdem steigt die Zahl der Asylanträge, denn die überlastete Verwaltung kommt erst langsam mit der Bearbeitung der Anträge hinterher. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben im vergangenen Jahr 441.899 Menschen einen Erstantrag auf Asyl gestellt, in diesem Jahr waren es bis Ende Juli 468.762. Wie viele davon bleiben, muss sich zeigen. Im vergangenen Jahr lag die Anerkennungsquote bei knapp 50 Prozent, in diesem Jahr bei mehr als 60 Prozent.
Geschätzte Kosten
Flüchtlinge müssen betreut, untergebracht, versorgt und ausgebildet werden. In zahlreichen Studien wurde eine Schätzung der Kosten versucht, unter anderem vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, dem Ifo-Institut in München, dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, dem Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel und dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim.
Die meisten Studien schätzen die Kosten pro Flüchtling und Jahr auf einen Betrag zwischen 12.000 und 20.000 Euro. Je nach Methode und Szenario gibt es große Spannen.
Aufgrund dieser und eigener Berechnungen veranschlagt das Bundesfinanzministerium die "asylbedingten Kosten des Bundes" für die Jahre 2016 bis 2020 auf 99,8 Milliarden Euro, also rund 20 Milliarden pro Jahr.
Diese Schätzung liegt etwas höher als noch im Mai dieses Jahres, als der Bund mit 94 Milliarden Euro kalkulierte. Das liegt daran, "dass der Bund den Ländern und Kommunen seitdem weitere Hilfen zugesagt hat, unter anderem für die Übernahme der Kosten der Unterkunft von anerkannten Asylbewerbern, für eine Integrationspauschale und für zusätzliche Mittel für den sozialen Wohnungsbau", so ein Sprecher des Finanzministeriums auf Anfrage der DW.
In diesem Jahr zahlt der Bund den Ländern und Kommunen 6,9 Milliarden Euro als "unmittelbare Entlastung", es ist der größte Einzelposten der asylbedingten Ausgaben. In Zukunft gewinnen laut dieser Planung jedoch "Sozialtransferleistungen nach Asylverfahren" an Bedeutung, also Unterstützung für Menschen ohne Arbeit: Im Jahr 2020 machen sie mit 8,2 Milliarden Euro den Löwenanteil an den Gesamtausgaben von knapp 20 Milliarden Euro aus.
Wie sehr solche Schätzungen von den ihnen zugrunde liegenden Annahmen abhängen, zeigt das Beispiel der Studie des IfW in Kiel. Je nach Szenario rechnen die Forscher für das Jahr 2022 mit Kosten zwischen 19,7 und 55 Milliarden Euro.
Kosten oder Investitionen?
Ob all die Ausgaben nur eine Belastung sind, ist zumindest umstritten. Schließlich fließt ein Teil des Geldes auch wieder an den Staat zurück. Allein das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Zahl seiner festen Mitarbeiter innerhalb von zwölf Monaten von 3000 auf 6000 verdoppelt.
Die Bundesländer haben zudem 15.813 neue Lehrerstellen für Flüchtlinge geschaffen, so Recherchen des Magazins Wirtschaftswoche. Benötigt werden insgesamt 25.000 Lehrer an allgemeinbildenden Schulen und Berufsschulen, außerdem 14.000 Erzieher in der Kinderbetreuung und Tausende Sozialarbeiter und Psychologen.
Auch in anderen Berufen ist eine "überdurchschnittlich anziehende Beschäftigung" festzustellen, so ein Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB): "Im Innenausbau und Hochbau, bei außerschulischen Lehrtätigkeiten und Sprachenlehrern, Wachleuten, Sozialarbeitern und in der öffentlichen Verwaltung."
Diese Ausgaben für Integration und Qualifikation der Flüchtlinge sollten nicht als reine Kosten, sondern als Investitionen verstanden werden, so Christian Proano, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bamberg, im Deutschlandradio. "Diese Investitionen könnten in der Zukunft das Wirtschaftswachstum in Deutschland erhöhen und gleichzeitig die Sozialkassen entlasten."
Das spiegelt auch die Langzeitbetrachtung des ZEW wieder: Wenn Integration und Arbeitssuche bestmöglich verlaufen, winken den öffentlichen Kassen innerhalb von zwei Jahrzehnten Mehreinnahmen von 20 Milliarden Euro. Im ungünstigsten Fall droht dagegen eine Belastung von 400 Milliarden Euro.
Bildung
Die große Frage ist, wie viele Flüchtlinge in absehbarer Zeit eine Arbeit finden und sich und ihre Familien selbst versorgen können. Je besser Sprachkenntnisse und Ausbildung sind, desto größer die Chance, dass ein Flüchtling nicht dauerhaft auf staatliche Hilfe angewiesen sein wird.
Von den Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr Asyl beantragten, hatten nur zwei Prozent Deutschkenntnisse, so eine Untersuchung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Über den Bildungsstand dieser Menschen ist allerdings wenig bekannt. "Repräsentative Daten zur schulischen und beruflichen Qualifikation aller Asylbewerber und Flüchtlinge liegen gegenwärtig noch nicht vor", heißt es in einem Bericht des IAB vom Juli.
Immerhin gibt es Anhaltspunkte. Im Juni waren rund 300.000 Personen, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, als arbeitssuchend registriert. Ein Viertel davon hatte Abitur oder einen vergleichbaren Abschluss, ein weiteres Viertel hatte gar keinen Schulabschluss, so das IAB. Insgesamt stellt der Bericht ein "niedriges Niveau der beruflichen Bildung" fest: "Von den arbeitsuchenden Flüchtlingen hatten im Juni 2016 knapp 74 Prozent keine formale Berufsausbildung".
Fazit der Untersuchung: Die meisten kommen allenfalls für "Helfer- und Anlerntätigkeiten" in Frage. Allerdings sieht der Bericht ein "enormes Bildungspotenzial", weil die meisten Flüchtlinge relativ jung sind. Mehr als die Hälfte der Menschen, die in diesem Jahr einen Asylantrag gestellt hat, ist jünger als 25 Jahre.
Arbeitsmarkt
Große deutsche Firmen hatten im Herbst 2015 angekündigt, Flüchtlinge einstellen und ausbilden zu wollen. Doch Erfolgsmeldung sind bisher rar. Die 30 wertvollsten deutschen Firmen, die insgesamt 3,5 Millionen Menschen beschäftigen, haben bis Ende Juni gerade einmal 54 Flüchtlinge fest angestellt, so Recherchen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Davon entfielen 50 Stellen allein auf die Deutsche Post.
Etwas besser läuft es bei den mehr als hundert Firmen, die die Initiative "Wir zusammen" gegründet haben. Sie bringen es aktuell auf 449 Festanstellungen und 534 Ausbildungsplätze für Flüchtlinge, außerdem mehr als 1800 Praktikanten, teilte die Initiative der DW mit. "Leider liegen uns keine Daten dazu vor, wann die Flüchtlinge ins Land gekommen sind", so eine Sprecherin.
Insgesamt haben nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit vom August 136.000 Menschen aus Asylherkunftsländern in Deutschland Arbeit gefunden, rund 30.000 mehr als ein Jahr zuvor. Die meisten dieser Menschen sind allerdings schon vor dem Sommer 2015 nach Deutschland gekommen.
Die Klärung des Aufenthaltsstatus und das Deutschlernen brauchen Zeit. Im Schnitt vergehen 22 Monate, bis junge Flüchtlinge eine Ausbildung beginnen, so eine aktuelle Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK).
Die Bundesregierung erwartet, dass die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland von derzeit 2,7 Millionen bis zum Jahr 2020 auf mehr als drei Millionen steigt.
Finanzierung
So wenig verlässlich die Datenlage derzeit ist, scheint eines zumindest sicher. Je weniger für Integration,Bildung und Qualifikation der Flüchtlinge getan wird, desto teurer wird es langfristig für die Steuerzahler. Es ist "ein Rennen gegen die Zeit", glaubt Volkswirt Christian Proano. "Man sollte lieber jetzt etwas zuviel Geld ausgeben, als sich in zehn oder 20 Jahren zu ärgern."
Bleibt die Frage, wie das zu finanzieren ist. Noch ist der Finanzminister zuversichtlich, dass er die Kosten ohne Kürzungen an anderer Stelle oder Steuererhöhungen stemmen kann, weil die Wirtschaftslage gut ist. Wenn sich daran etwas ändert, könnte die Debatte über Flüchtlinge noch schärfer werden, als sie ohnehin schon ist.