Seitenwechsel in Afghanistan
4. Juni 2017Der Seitenwechsel ist sichtbar. Das private Büro von Maulawi Halimi ist durch eine vergitterte Tür mit dickem Vorhängeschloss geschützt. Davor steht ein schwer bewaffneter Polizist mit Splitterschutzweste. Er soll ihn schützen - auch vor alten Weggefährten. Maulawi Mohammad Qasim Halimi macht keinen Hehl aus seiner Vergangenheit:
"Vor den Anschlägen vom 11. September 2001 war ich sehr zufrieden mit der Regierung der Taliban. Sie waren Afghanen, wir hatten eine afghanische Regierung. Niemand hat uns damals befohlen, wie wir unser Land zu regieren haben. Ich war glücklich mit dieser Regierung."
Die Taliban haben in den vergangenen Jahren mehrere Dutzend Mitglieder des Nationalen Religionsrates getötet oder verwundet. Auch Halimi gehört dem afghanischen "Ulema Council" an, seit 2005. Er ist Gelehrter des islamischen Rechts: In den neunziger Jahren studierte er am Sharia-Institut der Al-Azhar-Universität in Kairo.
Beste Zeit bei den Taliban
Als er 1998 in sein Heimatland zurückkehrte, machte er Karriere im Außenministerium des Taliban-Regimes, stieg zum amtierenden Protokollchef auf.
"Ich verleugne nicht, dass ich die Taliban unterstützt habe. Ich hatte eine sehr gute Zeit im Außenministerium. Das war meine beste Zeit. Damals hat Afghanistan die Taliban gebraucht."
"Damals" war die Zeit nach dem Rückzug der sowjetischen Besatzungstruppen. Afghanistans Freiheitskämpfer, die von den USA und Saudi-Arabien hochgerüsteten Mudschahedin, konnten sich nach 1989 nicht über die Aufteilung der Macht einigen. Sie fielen in einem blutigen Bürgerkrieg übereinander her, plünderten und mordeten. Sie legten die Hauptstadt Kabul in Schutt und Asche - bis 1996 die Taliban einmarschierten.
Ihr Vormarsch stoppte den Bruderkrieg der Mudschahedin. Der Preis: Die totalitäre Herrschaft der Religionsschüler um Mullah Omar. Ihre extreme Auslegung des Koran ersetzte die Rechtsprechung. Öffentliche Hinrichtungen und Auspeitschungen gehörten zum Alltag des isolierten Landes. Frauen wurden aus dem öffentlichen Leben verbannt, Mädchen durften nicht zur Schule gehen, Musik und Filme wurden verboten. Dennoch lässt Halimi nichts auf Mullah Omar kommen:
"Mullah Omar war ein mächtiger Mann. Wenn er nein sagte, hieß das nein. Wenn er ja sagte, hieß das ja. Ich kann heute nichts anderes sagen als damals: Afghanistan hat Mullah Omar gebraucht - so wie das Land heute Karzai und Ghani braucht."
Die verhängnisvolle Allianz zwischen Al-Qaida-Gründer Osama bin Laden und Mullah Omar blendet Maulawi Halimi an dieser Stelle aus. Osama bin Laden war nach Afghanistan gezogen, um gegen die sowjetischen Besatzungstruppen zu kämpfen. Dann wandte er sich gegen den Westen. Die Taliban hatten es bin Ladens Terror-Netzwerk aus alter Verbundenheit erlaubt, in Afghanistan Trainingslager aufzubauen - und hielten die Gastfreundschaft auch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 aufrecht.
Seitenwechsel nach dem Sturz
Als ihr Regime daraufhin durch den US-geführten Einmarsch in Afghanistan gestürzt wurde, landete Maulawi Halimi in amerikanischer Gefangenschaft. Die US-Truppen sperrten ihn von Januar 2002 bis Januar 2003 auf ihrem Stützpunkt in Bagram ein. Nach seiner Freilassung zog es ihn wie viele afghanische Taliban zunächst nach Pakistan. Hier genießt die Bewegung bis heute große Freiheit. Der mächtige pakistanische Sicherheitsapparat hält seine schützende Hand über die Rückzugsgebiete der Islamisten, um seinen Einfluss in der strategisch wichtigen Region zu wahren. Halimi beobachtet den pakistanischen Einfluss heute mit Sorge.
"Ich habe bis heute freundschaftliche Beziehungen zu den Taliban. Es geht um meine alten Freunde, es handelt sich nicht um politische Kontakte. Meine alten Freunde kennen mich und ich kenne sie. Deshalb kann ich sagen, dass die Taliban heute nicht alleine entscheiden können, was passiert."
Der redegewandte Maulawi blieb nur kurz in Pakistan. 2003 kehrte er in seine Heimat zurück und wechselte ins Regierungslager. Unter Hamid Karzai bekleidete Halimi Ämter im Justizwesen, in der Finanzverwaltung, im Bildungsministerium und im Hohen Friedensrat, der im Auftrag der Regierung mit den Taliban verhandeln soll. Seit 2005 gehört er zum Nationalen Religionsrat, dessen rund 3000 Mitglieder ein Gehalt vom Staat beziehen. Mullahs und Imame spielen im konservativen Afghanistan eine wichtige gesellschaftliche Rolle.
Islamisches Emirat
Der Ulema-Rat ist die größte religiöse Autorität im Land und berät den Präsidenten in religiösen Fragen. Für internationales Aufsehen sorgte eine Empfehlung vom März 2012. Darin riet der Religionsrat zur strikten Geschlechtertrennung - in Schulen und Universitäten, im Beruf und im öffentlichen Leben. Frauen sollten nicht alleine reisen und die höhere männliche Autorität als natürlich respektieren. Viele fühlten sich an das Taliban-Regime erinnert.
Halimi ist inzwischen zum Sprecher des Gremiums aufgestiegen. Für welche Ziele die Taliban heute kämpfen und immer wieder auch afghanische Zivilisten töten, weiß er nicht. Er wirbt für Gespräche.
"Ich kann sagen, dass es bis zum Tod Mullah Omars um ein Islamisches Emirat ging. Aber seit seinem Tod gibt es innerhalb der Taliban viele Probleme: Die Führung ist gespalten. Darüber hinaus: Wenn es den Taliban um ein Islamisches Emirat geht, dann müssen sie mit jemandem darüber reden. Die Idee eines Islamischen Emirats ist kein reifer Apfel, den man einfach vom Baum pflücken und essen kann. Der Religionsrat und die Regierung sind bereit zu verhandeln. Wenn du ein Problem mit dem islamischen Recht in unserem Land hast, dann rede mit uns. Wenn du ein Problem mit dem Regierungssystem hast, dann rede mit uns. Wir können über alles reden."
Gerechtigkeit muss warten
Doch derzeit deutet nur wenig auf einen Friedensprozess hin. Halimi selber gibt die Hoffnung nicht auf und verweist auf die Rückkehr von Gulbuddin Hekmatyar. Der sogenannte "Schlächter von Kabul" stand bis vor kurzem noch auf der Terrorliste der Vereinten Nationen. Hekmatyar bleibt dennoch wie andere Kriegsfürsten straffrei, darf sich in Kabul sogar um politische Ämter bewerben. Maulawi Halimi findet das richtig. Die Zeit sei nicht reif für eine juristische Aufarbeitung der Vergangenheit, sagt er kategorisch.
"Was benutzt du im Winter? Die Heizung oder die Klimaanlage? Ich glaube, dass es sehr schwer ist, im Winter mit der Klimaanlage zu leben. Wir müssen uns das Wetter sehr genau anschauen. Im Moment müssen wir die Vergangenheit vergessen. Wenn die Zeit für Gerechtigkeit gekommen ist, werden wir uns darum kümmern. Wenn wir das jetzt machen würden, würde es noch mehr Kämpfe geben."
Die Ziele der anderen
Streitigkeiten und Korruption innerhalb der afghanischen Regierung tragen auch zur fragilen Sicherheitslage bei. Kommentieren will der Sprecher des Nationalen Religionsrates das nicht. Das übersteige sein Amt, sagt er - und richtet den Blick zum wiederholten Mal lieber nach außen: auf den sogenannten "Islamischen Staat", der auch in Afghanistan Fuß gefasst hat. "IS"-Kämpfer sind für Halimi Terroristen. Im Zusammenhang mit den Taliban benutzt er das Wort nicht.
"Auf der ganzen Welt kämpfen Terroristen für die Ziele ihrer Auftraggeber. Das passiert auch in Afghanistan. Es gibt Länder, Gruppen und Nachbarn, die in Afghanistan Terroristen und unsere Taliban unterstützen, damit sie die afghanische Regierung bekämpfen. Ich glaube, die Taliban kämpfen nicht für ihre eigenen Ziele, sondern für die Ziele anderer."
Neben den USA und Pakistan haben auch Indien, Iran, Saudi-Arabien, Russland und China strategische Interessen in Afghanistan. Unlängst gerieten mutmaßliche russische Waffenlieferungen an die Taliban in die Schlagzeilen. Einen internationalen Konsens über die Zukunft des kriegsgeplagten Landes gibt es nicht. Maulawi Halimi hat sich mit der komplizierten Realität arrangiert. Er reist viel ins Ausland. Gerade erst war er in Deutschland und in Saudi-Arabien.
"Das beste System für Afghanistan ist die wahre Islamische Republik. Das heißt nicht, dass wir die Beziehungen mit der nicht-islamischen Welt abbrechen. Wir müssen mit der Welt in Kontakt sein, mit der islamischen und der nicht-islamischen. Wir müssen ein neues Leben mit dem Rest der Welt beginnen - wie Katar, wie die Vereinigten Arabischen Emirate, wie Saudi-Arabien und andere islamische Länder, die mit der Welt zusammenarbeiten."