Die afghanische Sicherheitslücke
24. Mai 2017Die kleine, verschlafene Seitenstraße ist von Bäumen gesäumt. Kabul strotzt vor schwer bewaffneten Männern: Soldaten, Polizisten, Geheimdienstler, Leibwächter, Milizionäre. Doch hier gibt es keine Bewaffneten zu sehen. Drei kleine Mädchen in luftigen Sommerkleidern spielen auf dem Gehweg Verstecken. Ein weißbärtiger Bäcker, der in seinem Laden im Schneidersitz auf einem roten Teppich sitzt, reicht einem Kunden frisches Fladenbrot aus dem Fenster. Die beiden Männer scherzen miteinander und lachen sich an.
Der Frühling in der afghanischen Hauptstadt Kabul kann zauberhaft sein. Nichts deutet an diesem Morgen darauf hin, dass Terror und Angst zum Alltag der Menschen gehören. Seit Anfang des Jahres gab es in Kabul mindestens sieben große Anschläge. Die Entführungsindustrie boomt. Erst vor wenigen Tagen kamen ein afghanischer Nachtwächter und eine deutsche Entwicklungshelferin bei einem mutmaßlich fehlgeschlagenen Entführungsversuch ums Leben. Die letzte größere Bombe explodierte Anfang Mai und tötete mindestens acht Zivilisten - trotz der allgegenwärtigen Checkpoints, Sprengschutzmauern und Stacheldrahtbarrieren.
Trügerische Ruhe
Die verschlafene Seitenstraße liegt im Stadtteil Shar-e-Naw. Bis 2014 gehörte Shar-e-Naw zu den Lieblingsvierteln ausländischer Helfer. Aber das ist Vergangenheit. Die meisten Helfer haben Afghanistan verlassen - spätestens mit dem Abzug der internationalen Kampftruppen.
Der 54-jährige Schreiner Abdul Satar nimmt Maß und greift zum Hobel, um eine Holzplanke in Form zu bringen. Er verdient knapp 200 Euro im Monat. Damit muss er seine Frau und sieben Kinder versorgen. Er zählt zu den Glücklichen, die einen Job haben. "Ich habe immer Angst um meine Frau und meine Kinder. Hier in Kabul kann dich jederzeit eine Bombe treffen." Der Schreiner glaubt nicht, dass mehr ausländische Soldaten die Lösung sind. "Afghanistan kann seine Probleme nur selber lösen."
Sein Chef Nazir Ahmad nickt zustimmend. Seine Geschäfte laufen schlecht, seit die Ausländer das beschauliche Shar-e-Naw verlassen haben. Die militärische Wirtschaftsblase ist geplatzt, das Wachstum ist gleich null. "Was hat die NATO uns denn schon gebracht?", fragt Nazir frustriert. "Hier waren doch mal mehr als 130.000 internationale Soldaten im Land, und der Krieg ging trotzdem immer weiter." Heute sind es nur noch rund 15.000, die meisten stammen aus den USA. Die NATO-Truppen sollen nicht mehr kämpfen, sondern die rund 350.000 afghanischen Sicherheitskräfte unterstützen und trainieren, die seit Anfang 2015 in der Verantwortung stehen. Die Amerikaner führen unter einem Sondermandat aber auch weiterhin sogenannte Anti-Terror-Operationen durch. Und je schlechter die Lage wird, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Trainingsmission und Kampfeinsatz.
Arbeitslosigkeit und Zwietracht
Afghanistan taumelt, die Zahl der zivilen Opfer steigt. Im vergangenen Jahr meldeten die Vereinten Nationen fast 11.500 Tote und Verletzte. In 31 von 34 Provinzen wurde gekämpft. Es deutet nichts auf eine Verbesserung der Lage hin: In den ersten vier Monaten dieses Jahres sind über 90.000 Afghanen zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden. Im vergangenen Jahr waren es mehr als 600.000. Verschlimmert wird die Lage dadurch, dass die beiden Nachbarländer Iran und Pakistan auch weiter massiv afghanische Flüchtlinge abschieben - fast 200.000 seit Anfang des Jahres. Viele zieht es nach Kabul, die Stadt platzt aus allen Nähten, am Stadtrand wachsen die Flüchtlingslager.
Nazir Ahmad macht die eigene Regierung für die mangelnde Sicherheit verantwortlich. "Sie streitet um Macht und Geld, anstatt sich um das Wohl der Menschen zu kümmern", klagt der Schreinermeister und schimpft über Korruption. "Warum schaffen unsere Politiker keine Arbeitsplätze?". Auch sein Ladennachbar Nurullah Tarkan hält Armut und Arbeitslosigkeit für das größte Sicherheitsrisiko. "Der einzige Weg zum Frieden führt über ehrliche Gespräche und Arbeitsplätze. Wenn die Menschen arbeiten können, kämpfen sie nicht. Aber wenn es keine Arbeit gibt und die Politiker streiten, nutzen ihre Rivalen die Perspektivlosigkeit der Bevölkerung aus."
Land der Warlords
Afghanistan ist auch nach dem US-geführten Einmarsch im Oktober 2001 ein Land der Kriegsfürsten geblieben. Gerade erst hat Vizepräsident Abdul Rashid Dostum das Land Richtung Türkei verlassen, um einer juristischen Auseinandersetzung zu entgehen. Er und seine Milizen sollen einen politischen Rivalen entführt, gefoltert und vergewaltigt haben.
Straffrei zurückgekehrt ist hingegen Gulbuddin Hekmatyar, der sogenannte "Schlächter von Kabul", der bis vor Kurzem noch auf der UN-Terrorliste stand. Ein Friedensvertrag ermöglicht es ihm, in Zukunft politische Ämter anzustreben.
Die Präsidentschaftswahlen von 2014 waren gefälscht, die für 2015 angesetzten Parlamentswahlen haben bis heute nicht stattgefunden. Die Taliban und rund 20 internationale Terrorgruppen wie der selbsternannte "Islamische Staat" nutzen das Machtvakuum aus. Ausländische Mächte von China bis Saudi-Arabien suchen sich auf dem unübersichtlichen afghanischen Schlachtfeld Verbündete, um eigene Interessen durchzusetzen.
Afghanische Sicherheitslücke
"In dieser Situation sind mehr internationale Truppen keine Lösung. Ein ausländischer Soldat hat 99 Prozent der Menschen hier zum Gegner, ein afghanischer Soldat nur ganz wenige", versichert Maulawi Mohammad Qasim Halimi. Er serviert kurz vor dem Abflug nach Saudi-Arabien grünen Tee und Süßigkeiten. Die Gebetskette gleitet geschmeidig durch seine Finger. Halimi war unter den Taliban amtierender Protokollchef im Außenministerium.
Nach dem Sturz des Regimes von Mullah Omar sperrten ihn die USA ein Jahr im Gefängnis Bagram ein. Heute steht Halimi auf Seiten der Regierung und ist Sprecher des nationalen Religionsrates. "Trainieren und beraten ist okay, aber ausländische Kampftruppen helfen uns nicht, damit haben wir schlechte Erfahrungen gemacht. Sie haben immer wieder Zivilisten getötet."
Zu den Streitigkeiten in der Regierung von Präsident Ashraf Ghani will er sich nicht äußern. Halimi hat nach eigenen Angaben noch Kontakt zu alten Weggefährten und ist überzeugt davon, dass "80 Prozent der Taliban lieber verhandeln würden anstatt zu kämpfen." Doch diese Mehrheit habe in der Bewegung keine Macht. Auch innerhalb der Taliban gebe es Streit, Machtkämpfe und Störfeuer von außen.
Fehlende politische Vision
Die Taliban sind genauso wie der afghanische Staat von ausländischer Hilfe abhängig. Einen politischen Konsens, wie ein friedliches Afghanistan einmal aussehen könnte, gibt es nicht. Weder im Inland noch im Ausland. Militärisch ist der Konflikt nicht zu lösen. Das haben die letzten vier Jahrzehnte Dauerkrieg bewiesen.
"Bye bye!" Die drei kleinen Mädchen in der verschlafenen kleinen Seitenstraße von Shar-e-Naw winken zum Abschied. Sie müssen bald zur Schule. Die Schreiner aus der Nachbarschaft schauen den hüpfenden Kindern lächelnd hinterher. Nichts deutet in diesem Moment darauf hin, dass Terror und Angst zum Alltag der Menschen gehören.