Kabul: Es gibt keine Sicherheitsgarantien
21. Mai 2017Wir sind in unsere Arbeit vertieft: hören zu, lesen Abschiebebescheide. Amir, Nuri, Mujtaba und Isa berichten uns über ihre Angst vor dem Leben in Kabul. Wir sitzen in der afghanischen Hauptstadt mit abgeschobenen Asylbewerbern aus Deutschland zusammen, als uns die schreckliche Nachricht vom Anschlag auf die schwedische Hilfsorganisation "Operation Mercy" erreicht. Wir sind betroffen und erschrocken. Jeder Anschlag ist entsetzlich. In Kabul. Paris. Brüssel. Nizza. Berlin.
Noch sind die Einzelheiten unklar. Wir telefonieren mit Kontakten in Kabul, um Näheres zu erfahren. Wir beobachten über soziale Medien, was afghanische Kollegen berichten.
Wir informieren unsere Familien, dass es uns gut geht. Freunde und Kollegen rufen an, schicken Nachrichten per SMS und über Whatsapp. Die abgeschobenen jungen Männer verstehen gut genug Deutsch, um unsere Gespräche mit der Heimat zu verfolgen. Mujtaba und Isa sprechen uns ihr Beileid aus. Wir sprechen mit der Chefredakteurin und dem Sicherheitskoordinator und wägen ab.
Der Anschlag galt Ausländern
Das Bild verdichtet sich. Der Anschlag am Samstagabend galt Ausländern. Ziel war der Wohnkomplex der Hilfsorganisation. Ein afghanischer Wachmann und eine deutsche Helferin sind tot. Eine finnische Helferin wurde entführt. Es ist nicht der erste gezielte Anschlag auf Ausländer in Kabul. Doch die meisten Angriffe treffen afghanische Zivilisten. Seit Beginn des Jahres hat es in Kabul mindestens sieben schwere Attacken gegeben, durch die mehrere hundert Menschen getötet oder verletzt wurden. Entweder bekannten sich die Taliban oder der selbsternannte "Islamische Staat".
Wir haben in den vergangenen Tagen eine ruhige afghanische Hauptstadt erlebt: Die Festung Kabul mit ihren hohen Sprengschutzmauern und Stacheldrahtbarrieren wirkt bei unserer Landung vor ein paar Tagen freundlich. Die Sonne strahlt am stahlblauen Himmel. Die Menschen, mit denen wir sprechen, begegnen uns offen und freundlich. Wie trügerisch diese Ruhe ist, beweist nicht nur dieser jüngste Anschlag.
Es gibt in Kabul keine Garantie auf Sicherheit. Ein Ort, der heute sicher ist, kann morgen ein Anschlagsort sein. Wir haben uns vor unserer Abreise selber Sicherheitsregeln auferlegt. Unser Arbeitgeber hat für Kriseneinsätze klare Regeln. An sie halten wir uns und hören auf unser Bauchgefühl. Mehr geht nicht.
Terror und Gewalt gehören zum Alltag
Wir fragen alle unsere Gesprächspartner, was sie davon halten, dass die USA und ihre NATO-Partner wieder mehr Soldaten nach Afghanistan schicken wollen. "Was soll das bringen, wenn sich sonst nichts ändert?" "Das Wichtigste ist, dass wir Afghanen uns einig sind und dass unsere Regierung endlich regiert, anstatt zu streiten." "Was sollen mehr ausländische Soldaten bringen, wenn sie nicht kämpfen dürfen?" "Wir müssen die vielen Milizen entwaffnen und nur unsere Sicherheitskräfte unterstützen." "Die NATO hat versagt. Sie sollen uns UN-Truppen schicken." "Wir wünschen uns von der internationalen Gemeinschaft zuerst Sicherheit und dann Bildung."
So unterschiedlich die Antworten ausfallen: Keiner der befragten Bürgerinnen und Bürger fühlt sich sicher in Kabul. Aber alle leben mit dem Risiko, weil das Leben weitergehen muss. Wir hören öfter den Satz: "Wenn wir morgens das Haus verlassen, wissen wir nicht, ob wir abends lebend zurückkommen, aber wir können doch nicht aufhören zu leben."
Wir sind als ausländische Gäste in dieser Stadt heute, nach dem jüngsten Anschlag, nicht in größerer Gefahr als gestern, vor dem mörderischen Angriff. Terror und Gewalt gehören in der afghanischen Hauptstadt zum Alltag, hinzu kommt Bandenkriminalität. Entführungen sind ein Geschäftsmodell.
Wir sind als Journalistinnen hier, um den Alltag in der afghanischen Hauptstadt abzubilden. Wir kennen Kabul und Afghanistan von vielen Reisen. Afghanistan ist ein Land im Krieg. Der internationale Militäreinsatz, der inzwischen im 16. Jahr ist, hat dem Land Fortschritt und Öffnung, aber keinen Frieden und keine Sicherheit gebracht.