Ex-Jugoslawien: Recht ohne Versöhnung
1. Juli 2021Die Bilanz des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), der 1993 vom UN-Sicherheitsrat ins Leben gerufen worden war und nach den Urteilen vom 30.06.2021 nun seine Arbeit einstellt, liest sich eindrücklich: 161 Personen wurden wegen schwerster Kriegsverbrechen zwischen 1991 und 1999 in Kroatien, Bosnien und Herzegowina und Kosovo angeklagt. 93 von ihnen wurden verurteilt, 18 Angeklagte freigesprochen.
Zuletzt war der serbische Ex-General Ratko Mladic (78) ebenso zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt worden wie sein politischer Partner, Radovan Karadzic (75). Sie waren die Köpfe einer "kriminellen Vereinigung", die schwerste Kriegsverbrechen serbischer Einheiten befehligten, so die Urteile.
Unbestritten hat das Haager Tribunal Meilensteine für weitere internationale Gerichte gesetzt und teilweise objektive minutiöse Geschichtsschreibung ermöglicht. Kritiker merken an, dass in Den Haag nur über die Spitzen der Militärapparate geurteilt wurde. Die übergroße Mehrheit der unmittelbaren Täter, die gemordet, zerstört, vergewaltigt und vertrieben hatten, sei bis heute unbehelligt geblieben.
Das führt zum Beispiel im ostbosnischen Srebrenica dazu, dass Täter und Opfer bzw. Hinterbliebene von Opfern sich tagtäglich auf den Straßen begegnen. Denn obwohl hier im August 1995 bis zu 8000 muslimische Jungen und Männer von serbischen Verbänden ermordet wurden, blockiert die heimische Justiz praktisch jeden Prozess für dieses schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit 1945.
Die größten Misserfolge
Andere Kritiker bemängeln, dass Hauptbeschuldigte wie Mladic und Karadzic sich 15 bzw. 12 Jahre ihrer Verhaftung entziehen konnten. Der frühere kroatische General Ante Gotovina war vier Jahre auf der Flucht. Etliche Urteile führten zur Verwunderung wie gerade bei Gotovina, der 2011 zunächst wegen schwerster Verbrechen zu 24 Jahren Haft verurteilt und ein Jahr später im Berufungsverfahren freigesprochen wurde. Der serbische Nationalistenführer Vojislav Seselj saß zwölf Jahre, 2018 wurde er im Berufungsprozess schuldig gesprochen, jedoch nicht mehr inhaftiert, da die Dauer der verbüßten Untersuchungshaft die ausgesprochene Strafdauer von zehn Jahren überstieg.
Als größter Misserfolg dürfte jedoch der Tod des serbischen Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic noch vor seinem Urteil in der Zelle des Tribunals im Jahr 2006 gelten. Der eigentliche Ideologe und autokratische Kriegsherr der serbischen Seite erlag einem Herzinfarkt. Der kroatische Serbenführer Milan Babic erhängte sich in einer Zelle. Slobodan Praljak, Ex-Spitzenfunktionär im kroatischen Verteidigungsministerium, zelebrierte 2017 im Gerichtssaal seinen Suizid mit Zyankali, nachdem er schon 13 Jahre in Untersuchungshaft gesessen hatte und kurz zuvor in einem Berufungsverfahren zu 20-jähriger Haft verurteilt worden war.
Kriegsnarrative sind wieder aktuell
Konnte das UN-Tribunal die Aussöhnung der Kriegsparteien anstoßen? Das dürften wohl auch seine glühendsten Anhänger verneinen. Denn die alte Kriegspropaganda und ihre ideologischen Grundlagen sind in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens wieder in aller Munde.
In Kroatiens Fußballstadien sind antiserbische Parolen zur Regel geworden. Schlimmste Graffitis werden ebenso regelmäßig bekannt wie tätliche Angriffe auf Serben. Seit in Serbien 2012 die "Kriegsprotagonisten" an der Macht seien, erhebe das Land wieder Ansprüche auf Bosnien und Herzegowina sowie Montenegro, sagt der Belgrader Historiker Milivoj Beslin. Das neueste politische Projekt einer "Serbischen Welt" sei die alte Idee eines Großserbien nur mit anderem Anstrich.
Nationale Homogenisierung geht weiter
Ähnlich wie vor dem Ausbruch der Jugoslawienkriege ist die selbst gewählte nationale Opferrolle erneut überall in Mode gekommen. Das diene zur Homogenisierung der verschiedenen Völker, sagt die Belgrader Historikerin Dubravka Stojanovic: "Dieses kollektive Gefühl ist die beste psychologische Grundlage für Aggression, die als Selbstverteidigung dargestellt wird. Denn ein Opfer kann kein Angreifer sein."
Auch in den Schulbüchern werden die jungen Menschen wieder nationalistisch "gebildet". Analysen zeigen, dass dort die alten Stereotypen gelehrt werden: Die feindseligen Nachbarn wollten ihr Staatsgebiet ausdehnen, wogegen man sich verteidigen müsse. Einmal mehr wird im Schulunterricht die Geschichte der letzten Kriege neu geschrieben - Verbrechen wurden ausschließlich von den Gegnern begangen.
Kriegsverbrecher als Helden
Nach dem Urteil gegen General Mladic, titelte die Belgrader Boulevardzeitung "Informer" (am 15. Juni), die als Sprachrohr der Regierung gilt: "Schreckliches Unrecht. General Ratko Mladic wurde ohne jeden Beweis zu lebenslanger Haft verurteilt. Nur falsche Zeugen haben Mladic beschuldigt. Alle Beweise der Verteidigung ignoriert".
Die ebenfalls einflussreiche Zeitung "Novosti" präsentierte angeblich neue geheime Dokumente des britischen Verteidigungsministeriums. "Serben haben in Srebrenica keinen Völkermord begangen", sollte hier "bewiesen" werden, obwohl internationale Gerichte das Massaker wiederholt als Genozid eingestuft hatten. In Kroatien genießen erst in umstrittenen Berufungsverfahren freigesprochene Militärs Kultstatus.
Wenn man die aktuellen nationalen Spannungen auf dem westlichen Balkan betrachtet, die von den Spitzenpolitikern mit populistischen Behauptungen befeuert werden, hat das Haager Tribunal nicht zur Versöhnung beitragen können. Dazu müsste die Zivilgesellschaft mobilisiert werden. Wissenschaftler, Lehrer, Jugendaustausch, lauten die Stichworte.
Vor allem aber müssten die Medien in den postjugoslawischen Staaten dem Zugriff der dort herrschenden politischen Eliten entzogen werden. Denn über sie werden die Bevölkerungen wie in schlimmsten Kriegszeiten aufeinandergehetzt.