Ein harter Brexit ist greifbar nahe
18. September 2019"Dieses Parlament ist das einzige, das in diesen Tagen die Rechte britischer Bürger verteidigt." Nur das Europaparlament, so betonen Brexit-Koordinator Guy Verhofstadt und andere Abgeordnete, kann derzeit den britischen EU-Austritt diskutieren, weil die Kollegen in London in Zwangspause geschickt wurden. Und der Belgier sagt auch deutlich, wie die Dinge stehen: "Die britische Regierung hat keine rechtlich mögliche Alternative auf den Tisch gelegt." Der Verhandlungstisch ist leer.
Immerhin: Sein Essen mit Boris Johnson an diesem Montag in Luxemburg sei freundlich gewesen, konstruktiv und generell positiv, berichtet EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vom ersten gemeinsamen Treffen. Der britische Premier wolle weiterhin ein Austrittsabkommen und gleichzeitig den Brexit am 31. Oktober. Das Risiko eines harten Ausstiegs ohne Abkommen aber werde immer greifbarer und die Entscheidung darüber liege bei der Regierung in London.
Der Streit dreht sich um den Backstop, das Sicherheitsnetz, dass eine harte Grenze in Irland vermeiden, den Binnenmarkt und den gemeinsamen irischen Wirtschaftsraum schützen soll. "Ich hänge da gefühlsmäßig nicht dran", fügt Jean-Claude Juncker hinzu, "aber ich stehe zu den Zielen." Und die britische Seite müsse mit praktischen Vorschlägen kommen, wie man sie anders erreichen könne. "Sonst kann ich nicht behaupten, dass echter Fortschritt erreicht worden ist."
Damit stellt sich Juncker noch einmal diametral gegen Behauptungen des britischen Premiers, der in London von großen Fortschritten bei den Verhandlungen gesprochen hatte und immer wieder verkündet, ein Deal sei in greifbarer Nähe und die EU müsse ihm nur zustimmen.
Neues Londoner Team eingearbeitet
Michel Barnier verhandelt weiter auf Seiten der EU, während aus London inzwischen ein komplett neues Team mit David Frost angereist ist, das quasi bei Null anfängt. Man habe die Kollegen erst tagelang in die komplizierten Details des Austrittsabkommens einweihen müssen, das jetzt auf dem Tisch liegt, hieß es von Teilnehmern auf EU-Seite. Außerdem seien die Briten mit einem Vertragstext nach Brüssel gereist, der anstelle der Ausführungen zu Irland und zum Backstop nur leere Seiten enthielt.
"Das reicht nicht", sagt auch Michel Barnier. Es bräuchte eine Lösung für die Risiken in Irland, denn Tiere und Lebensmittel, die über das britische Nordirland in die EU kämen, wären damit auch zugänglich für den französischen oder polnischen Markt. Hier gehe es um den Schutz der Verbraucher und um Tiergesundheit - ein Hinweis auf das mögliche Einsickern von Produkten aus den USA oder dem Rest der Welt, die nicht europäischen Standards genügen.
"Wir dürfen nicht so tun, als ob wir verhandeln"
EU-Chefunterhändler Barnier machte auch erneut deutlich, dass die gemeinsame Arbeit nach dem Brexit erst richtig losgeht. Die politische Erklärung, in der bisher ehrgeizige Ziele für ein künftiges Verhältnis festgeschrieben sind, werde von Boris Johnson infrage gestellt. Wenn London sich jetzt vom Prinzip des "level playing field", der gemeinsamen Regeln für Produkte und Unternehmen, abwende, dann müsse man noch eine klare Basis für einen künftigen Handelsvertrag erarbeiten, schließlich gehe die Hälfte der britischen Exporte in die EU. Außerdem stehe die Basis der Zusammenarbeit auf weiteren Feldern infrage, etwa bei Verteidigung, Sicherheit und Außenpolitik.
Und schließlich dürfe man die realen Risiken eines harten Brexits nicht unterschätzen. Und dessen Folgen würden ja nicht einfach verschwinden, man werde danach trotzdem verhandeln müssen über Geld, über Bürgerrechte und andere offene Fragen.
"Wir dürfen nicht so tun, als ob wir verhandeln", fügte Barnier noch hinzu. Ein klarer Hinweis, dass er an die bisherige britische Strategie nicht glaubt. London will wohl erst nach dem Parteitag der Konservativen Anfang Oktober Einzelheiten in Brüssel vorlegen. Die Angst ist, dass die Vorschläge sonst schnell zerschossen würden. Allerdings ließe das nur noch zwei Wochen Zeit für eine Einigung bis zum entscheidenden EU-Gipfel am 17. Oktober. Dieser Zeitplan gilt als quasi unmöglich und ist wohl Grund für die erneuten Warnungen der europäischen Verhandlungsführer.
Ein kleiner Riss im EU-Parlament
Wie bei dem emotional aufgeheizten Thema nicht anders zu erwarten, war der Streit zwischen den Lagern im Europaparlament lebendig. Sogar der sonst so brave Fraktionsführer der konservativen EVP gab einen Schuss über den Ärmelkanal ab: "Derzeit ist es nicht Großbritannien, dass die EU verlässt, sondern Jobs und Unternehmen verlassen Großbritannien." Das zeige, was für eine dumme Idee der Brexit sei, sagte Manfred Weber. Und er nannte das Treffen am Montag eine verschwendete Gelegenheit, die Probleme zu klären.
"Wir sind offen für neue Vorschläge und für eine Verlängerung", betonte der Christdemokrat, aber man werde kein soziales, wirtschaftliches und ökologisches Dumping erlauben. Und schließlich müsse man sich auf den schlimmsten Fall vorbereiten - den No-Deal-Brexit.
Während die Redner aller Mitte-Links-Parteien im Parlament diese Gefahr deutlich sehen, wünscht sich der Chef der britischen Brexit-Partei nichts sehnlicher als das: "Wir wollen einen sauberen Brexit und hinterher eine erwachsene Unterhaltung", beschreibt Nigel Farage sein Ziel. Der freundliche Ton im Parlament zeige ihm, dass man einem Deal nahe sei. Ein Abkommen aber würde Großbritannien weiter an die EU fesseln. Wenn es sich davon aber befreien könne, werde das Land außerhalb der EU wettbewerbsstärker und reicher werden als jetzt.
"Es gibt keinen guten Brexit", hielt der schottische Abgeordnete Alyn Smith dagegen. "Die Tories haben keinen Plan für ein dauerhaftes künftiges Verhältnis. Wenn der Brexit kommt, werden sie ihn nutzen, um alles zu zerschlagen und abzubrennen." Es werde Dumping an allen Fronten geben, direkt an den Küsten der EU.
Und so wurden die Kämpfe, die derzeit im Unterhaus in London ausgetragen werden, für einen Tag nach Straßburg ins Europaparlament verlegt. Nur dass es hier - bei allem Bedauern über den Brexit - eine klare Mehrheit für einen geregelten Ausstieg als die weniger schlechte Lösung gibt. Allerdings: Am Ende müssen diese Abgeordneten einem Deal zustimmen, und sie sind erkennbar nicht bereit zu Kompromissen um jeden Preis.