Der unglaubliche Hulk und der Brexit
16. September 2019Der genaue Ort des Treffens wurde behandelt wie eine geheime Staatsaffäre. Klar ist nur, dass es Mittagessen gab und Boris Johnson mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Chefunterhändler Michel Barnier zusammenkam. Und dass der EU-Besuch des britischen Premiers in Luxemburg stattfindet - und nicht in Brüssel.
Offizielle Erklärung dafür ist, dass Juncker danach weiterfährt nach Straßburg zum Europaparlament. Inoffiziell will Johnson wohl vermeiden, wie Theresa May nach Brüssel zu reisen, um dort Konzessionen zu erbitten. Dabei ist auch Luxemburg Sitz von EU-Institutionen, etwa des bei den Briten besonders verhassten Europäischen Gerichtshofs. Johnson will sich am Nachmittag auf einer Pressekonferenz äußern.
Ist Boris Johnson der unglaubliche Hulk?
Am Wochenende war der britische Premier in die politische Kinderstunde abgetaucht. Er verglich sich mit der Science-Fiction Figur des unglaublichen Hulk, der immer dann unüberwindlich stark wird, wenn er Widerstand erfährt. Das könnte ein Fall von Größenwahn oder auch eine besonders absurde Form von britischem Humor sein.
Allerdings ist es nicht die EU, die dem Briten bei einem neuen Anlauf für ein Austrittsabkommen Widerstand leistet. Es sind seine innerparteilichen Gegner und die Tatsache, dass er im Parlament keine Mehrheit hat und nicht sicher sein kann, wer am Ende einem runderneuerten Deal mit der EU überhaupt zustimmen sollte.
Was seine persönliche Glaubwürdigkeit betrifft, so musste Johnson in den vergangenen Tagen Tiefschläge von seinem Amtsvorgänger David Cameron einstecken. Der beschuldigt ihn in seinen gerade veröffentlichten Erinnerungen des Verrats und der Lüge: Sein früherer Freund Boris habe 2016 überhaupt nicht an den Brexit geglaubt und sich nur dafür entschieden, "um seine politische Karriere" zu fördern. Die Tatsache an sich war bekannt, und Johnson kämpft wohl deshalb dieser Tage mit der Inbrunst eines Bekehrten für den Brexit.
Die Lösung liegt in Nordirland
Letzte Signale aus der Londoner Gerüchteküche behaupten, Theresa Mays Austrittsabkommen sei für die Regierung weitgehend akzeptabel, bis auf den Backstop. Das ist die Sonderregelung für die Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland. Schon vor einer Woche hatte Johnson davon gesprochen, eine Lösung für dieses Problem könne in einer Sonderregelung für Nordirland allein liegen. Das bedeutet, die EU könnte ihren ursprünglichen Vorschlag wieder aus der Schublade ziehen. Ob allerdings die nordirische DUP dabei mitspielt, die diese Idee bisher aufs Messer bekämpfte, ist zweifelhaft. Vielleicht verzichtet Johnson auch einfach auf ihre zehn Stimmen, weil ihm sowieso die Mehrheit fehlt.
Die Lösung sieht vor, dass Nordirland in der Zollunion und Teilen des Binnenmarkts verbliebe und eine fiktive Grenze durch die irische See verlaufen würde. Damit würden Kontrollen und der Aufbau realer Grenzposten zwischen den beiden Teilen überflüssig. Theresa May hatte damals kategorisch erklärt, kein britischer Premier könne jemals zustimmen, dass ein Teil Großbritanniens dermaßen abgespalten würde.
Konkurrent Großbritannien?
Boris Johnson aber scheint entspannter darüber zu denken. Er hat inzwischen vorgeschlagen, die Agrar- und Lebensmittelregelungen in Nordirland auf EU-Standard zu halten, um Kontrollen überflüssig zu machen. "Nordiren sind Briten", erklärte er, "aber nordirische Kühe sind Iren". Diese Produkte stehen allerdings nur für 30 Prozent des grenzüberschreitenden Handels, den Rest will die Regierung in London irgendwie wegmogeln. "Trusted trader"-Programme, Barcodes auf Produkten, die im Inland gescannt werden und ähnliche Ideen gehören zu den sogenannten "alternativen Lösungen", die London schon lange fordert.
Der EU allerdings bieten sie wenig Sicherheit zum Schutz ihres Binnenmarktes. Wer etwa sollte solche Verfahren überwachen? Zumal die britische Seite inzwischen angedeutet hat, man wolle bei der Regulierung künftig weg von EU-Standards und vom "level playing field", den gleichen Grundbedingungen für Unternehmen. Das macht den Abschluss eines späteren Freihandelsabkommens nach dem Brexit viel komplizierter. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach in der vergangenen Woche offen davon, dass in Großbritannien ein Konkurrent entstehen könnte, der einen Wettbewerb mit allen Mitteln plant.
Das Timing ist quasi unmöglich
Johnson will im Lauf der Woche auch noch weitere europäische Hauptstädte besuchen, so heißt es aus London. Allerdings sind seine diplomatischen Vorstöße, wie auch die jüngsten Besuche in Berlin und Paris, weitgehend nutzlos, solange seine Unterhändler keine konkreten Vorschläge und keine Papiere vorlegen. Das allerdings will der Premierminister vermeiden, um nicht von seinen Gegnern noch im Vorfeld des Tory-Parteitages verrissen zu werden.
Konkret werden könnte es also erst danach, etwa ab dem 3. Oktober. Dann bleiben bis zum Gipfel nur noch zwei Wochen. Innerhalb dieser Zeit müsste der Deal ausgearbeitet und in den 27 EU-Hauptstädten abgesegnet werden. Denn im Gegensatz zu dem was Boris Johnson immer behauptet, wird im Kreise der Regierungschefs beim Gipfel nicht über Einzelheiten verhandelt, sondern nur der Daumen über dem fertigen Abkommen gesenkt oder gehoben.
Ritt auf der Rasierklinge
Selbst ein Sondergipfel Ende nächsten Monats würde die Sache kaum besser machen. Denn dann fehlte ihm die Zeit, um den Deal durch das Parlament zu peitschen. Angeblich will er das in den verbleibenden zehn Tagen Ende Oktober schaffen. Und jedenfalls bräuchte er dazu die Unterstützung einer ganzen Reihe von Oppositionsabgeordneten, weil unklar ist, wie sich seine "Spartaner", die Ultra-Brexiteers, die moderaten Tory-Rebellen und die nordirische DUP bei der Abstimmung verhalten.
Das Ganze ist also ein Ritt auf der Rasierklinge, bei dem kaum zu erkennen ist, ob er überhaupt gut gehen kann. Und dann ist auch weiter unsicher, ob Boris Johnson ernsthaft verhandelt oder nur so tut, um am Ende die Schuld am Scheitern auf die EU zu schieben. Im Interview mit der "Daily Mail" am Sonntag erklärte der Premier, er wolle trotz des Gesetzes gegen den No-Deal bei der EU keine Verlängerung beantragen. Das heißt, er will es auf den totalen institutionellen Krach mit dem Parlament ankommen lassen und das Land am 31. Oktober aus der EU stürzen. Der irische Premier Leo Varadkar warnte am Wochenende erneut, die Vorstellungen beider Seiten lägen immer noch weit auseinander. Das scheint derzeit die einzig realistische Beschreibung der Lage.