EU will Migranten in Afrika halten
19. Oktober 2017Die Migrationspolitik der EU wurde zwar besprochen, aber um das heißeste Eisen machten die 28 Staats- und Regierungschefs einen weiten Bogen. Wie die Flüchtlinge und Asylbewerber in Zukunft auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden sollen, ist nach wie vor ungeklärt. Das Europäische Parlament forderte zum Gipfelauftakt eine grundlegende Änderung der sogenannten Dublin-Regeln. Künftig soll nicht mehr der Staat für Asylbewerber zuständig sein, dessen Boden sie zuerst betreten haben. Das Parlament will, dass die Asylbewerber nach einer Registrierung in Griechenland und Italien nach festen Kriterien verteilt werden und zwar auf alle EU-Staaten.
Gegen diesen Ansatz wehren sich vor allem, aber nicht nur osteuropäische Staaten wie Polen, Ungarn, die Slowakei und Tschechien. Aus der ungarischen Delegation hieß es, von einer Neuregelung der Asylregeln sei man noch sehr weit entfernt. Eine Verteilung nach Quoten lehnt Ungarn kategorisch ab. Auch von deutschen Regierungsbeamten hieß es, eine Entscheidung über eine neue Dublin-Regel sei frühstens im Juni 2018 zu erwarten.
Verteilung von Asylbewerbern bleibt umstritten
Außerdem ist nach wie vor ungeklärt, wie Ungarn, Polen und andere Staaten dazu gebracht werden sollen, ihre bisherigen Verpflichtungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern zu erfüllen. Trotz eines entsprechenden Urteils des Europäischen Gerichtshofes weigern sich Ungarn und Polen, ihre Quoten einzuhalten, die im Jahr 2015 mit Mehrheitsbeschluss in der EU festgelegt wurden. Dieses Thema wurde beim Gipfel ausgespart. Lieber sprachen die Staats- und Regierungschefs über die Aspekte der Migrationspolitik, in denen sie sich einig sind.
Der Schutz der Außengrenzen soll verbessert werden, um das Schlepperwesen und illegale Einreisen zu unterbinden. Die Zusammenarbeit mit Libyen und anderen afrikanischen Staaten soll verstärkt werden, um die Migrationsrouten über das Mittelmeer zu schließen. "Es ist uns gelungen, die Zahl der Menschen, die über das Meer kommen, in diesem Sommer dramatisch zu senken", sagte der italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni in Brüssel.
Die EU-Kommission mahnte an, dass die Mitgliedsstaaten mehr in einen Afrika-Treuhandfonds einzahlen sollten, der zur Verbesserung der Lebensverhältnisse potenzieller Flüchtlinge dienen soll. Bislang sind die zugesagten 90 Millionen Euro nicht geflossen, weil viele Staaten dem afrikanischen Treuhandfonds nicht trauen, sagen deutsche EU-Diplomaten. Sie seien sich nicht sicher, ob die Mittel auch tatsächlich für eine Bekämpfung der Fluchtursachen eingesetzt würden.
Merkel lobt die Türkei
Vorbild für eine Zusammenarbeit mit Libyen ist das Rücknahme-Abkommen für Flüchtlinge und Asylbewerber, das die EU vor eineinhalb Jahren mit der Türkei geschlossen hatte. Die Migrationsroute über die Ägäis nach Griechenland konnte so fast vollständig geschlossen werden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel war voll das Lobes für das Engagement der Türkei beim Zurücknehmen und Versorgen der Flüchtlinge. "Die Türkei leistet hier Herausragendes", sagte Merkel. Sie machte sich dafür stark, dass der Türkei weitere drei Milliarden Euro für Flüchtlingsprojekte zugute kommen sollen. Die ersten drei Milliarden Euro wurden bereits an Hilfsorganisationen in der Türkei ausgezahlt.
Scharfe Kritik an Lagern in Libyen
Die 28 Staats- und Regierungschefs waren sich einig, dass die EU illegale Einreisen von Migranten möglichst vollständig unterbinden sollte. Der französische Präsident Emmanuel Macron, setzte sich dafür ein, mehr Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber durchzusetzen und dabei "gnadenlos" vorzugehen.
Die grüne Europaabgeordnete Barbara Lochbiehler kritisierte die Migrationspolitik der EU am Rande des Gipfeltreffens scharf. Sie sagte, die Migranten würden in Libyen festgehalten. Jeder wisse, was dort mit ihnen passiere. Die EU verstoße gegen Menschenrechtskonventionen. In den Flüchtlingslagern würden Migranten zur Erpressung von Lösegeld gefoltert und vergewaltigt. "Die angekündigten Maßnahmen zur Verbesserung der Situation in Libyen sind nur kosmetisch und dienen nur zur Rechtfertigung der Schließung der Mittelmeerroute", bemängelte Lochbiehler. Auch die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" hatte die Zustände in libyschen Flüchtlingslagern kürzlich in Brüssel als unzumutbar gegeißelt.
Sebastian Kurz: "Türkei gehört nicht in die EU"
Ganz anders als in der Migrationspolitik kritisierte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Türkei scharf wegen der innenpolitischen Zustände dort. "Nicht nur, dass viele Deutsche verhaftet sind, sondern die gesamte rechtsstaatliche Entwicklung in der Türkei bewegt sich nach meiner Auffassung in die falsche Richtung. Wir haben hier sehr große Sorgen", sagte Merkel in Brüssel. Sie setzte sich dafür ein, die Beihilfen zur Heranführung des EU-Beitrittslandes Türkei an die Union zu kürzen.
Bislang sind Vorbeitrittshilfen von 4,45 Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 vorgesehen, die bislang aber nur zu einem kleinen Teil ausgezahlt wurden. Sie könnten nur vollständig gestrichen werden, falls die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei komplett abbricht. Den sofortigen Abbruch der Verhandlungen forderte Merkel aber nicht, sie wollte nur ein "Meinungsbild" von den anderen Staats- und Regierungschefs abfragen. Deshalb ließ die Kanzlerin das Thema auf die Tagesordnung des Treffens setzen. Die Beitrittsverhandlungen mit der in die Autokratie abdriftende Türkei müssten von der EU einstimmig abgebrochen werden. "Soweit sind wir noch lange nicht", sagten EU-Diplomaten.
Der Einzige, der lautstark ein Ende der Beitrittsgespräche mit der Türkei forderte, war Sebastian Kurz, wahrscheinlich der nächste Bundeskanzler von Österreich. Der Wahlsieger war zu einem Treffen der europäischen konservativen Parteien nach Brüssel gekommen. Er sagte, er habe eine "ganze klare Position" zur Türkei. "Sie gehört nicht in die Europäische Union." De facto finden die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seit dem vereitelten Putschversuch 2016 und der anschließenden Säuberungswelle nicht mehr statt. Denn auch zur Öffnung neuer Verhandlungsschritte wäre eine Einstimmigkeit in der EU erforderlich.
Weiter Stillstand beim Brexit
Die Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien gehen erst einmal nicht in die zweite Phase. Die britische Premierministerin Theresa May meinte zwar, sie habe eine "mutige Vision" für die künftigen Beziehungen vorgelegt. Das reichte den übrigen 27 Staats- und Regierungschefs aber nicht. Sie wollen konkrete Zusagen zu den Zahlungsverpflichtungen der Briten sehen. Im Dezember will die EU erneut prüfen, ob es "ausreichende" Fortschritte in den Brexit-Verhandlungen gab. Bundeskanzlerin Merkel sah wenigstens "ermutigende" Zeichen, was von britischen Medien sofort als Parteinahme für Premierministerin May gedeutet wurde.