EU-Gipfel mit "lahmer Ente"
18. Oktober 2017Die EU schiebt eine Reihe von Problemen vor sich her, die eigentlich Entscheidungen bedürften. Von einer Neufassung der Asylverfahren über den europäischen Finanzminister bis zu einer grundlegenden Reform der EU-Architektur reichen die Themen, die auf dem Gipfeltreffen der 28 Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag zwar angeschnitten, aber nicht entschieden werden. Der deutschen Regierungschefin Angela Merkel sind nämlich im Moment die Hände gebunden. Nach der Bundestagswahl vor vier Wochen gibt es noch keine neue Regierungskoalition. Festlegungen zu Reformplänen, die vor allem der französische Staatspräsident Emmanuel Macron vorantreibt, sind der deutschen Bundeskanzlerin im Moment nicht möglich. Einer ihrer möglichen Koalitionspartner, die liberale FDP, hat die Kanzlerin vorsorglich schon einmal zur "lahmen Ente" erklärt, die ohne Mehrheit im Parlament erst einmal gar nichts machen kann.
"Deutschland ist zurzeit nicht entscheidungsfähig", erklärte der FDP-Vorsitzende Christian Lindner in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Die Bundesregierung sei nur noch geschäftsführend im Amt. "Es dürfen keine Festlegungen getroffen werden ohne neue politische Legitimation", verlangte Lindner, dessen FDP zusammen mit den Grünen und der konservativen Union eine sogenannte Jamaika-Koalition bilden könnte.
Der französische Präsident Emmanuel Macron macht vor allem Druck bei der Installation eines europäischen Finanzministers, der mit eigenem Budget Investitionen und die Wirtschaft, nicht zuletzt in Frankreich ankurbeln soll. Die FDP sieht das sehr kritisch. Die Bundeskanzlerin auch.
Rechtes Österreich gegen Migrationspolitik?
Ein ähnliches Problem hat auch Österreich. Dort wird der konservative Wahlgewinner Sebastian Kurz Bundeskanzler werden, nur wann ist die Frage. Denn Koalitionsverhandlungen der neuen Volkspartei mit den Sozialdemokraten oder den Rechtspopulisten können Monate dauern. Österreich spielt im EU-Gefüge insofern eine Rolle, als dass die eher Brüssel-kritischen osteuropäischen Staaten auf eine neue nationalistische Regierung in Wien hoffen. Sollte die ins Amt kommen, wäre es einfacher, die Verhinderung von Migration und die Sicherung der EU-Außengrenzen zur Priorität zu machen. Eine Umverteilung von Flüchtlingen und Asylbewerbern, wie die EU-Kommission sie vorschlägt, wäre dann noch schwerer durchzusetzen.
Die Liste der Baustellen in der Europäischen Union ist lang, eine Auswahl für dieses Gipfeltreffen:
Brexit
27 EU-Staaten werden der britischen Premierministerin noch einmal klar machen, dass es ohne Fortschritte bei finanziellen Fragen, Bürgerrechten und Nordirland-Grenze, keine Verhandlungen über zukünftigen Handel und politische Beziehungen geben wird. Der Versuch von Theresa May in letzter Minute bei einem Abendessen den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker auf ihre Seite zu ziehen, schlug fehl. Großbritannien wird auf den Dezember-Gipfel der EU vertröstet, wenn es bis dahin seine Blockadehaltung ablegt. Die Briten wiederum verlangen, dass die EU ihre Verhandlungsstrategie ändert. Das wird nicht passieren. EU-Ratspräsident Donald Tusk schrieb in seiner Einladung zum Gipfel, der Brexit habe "eine neue Energie in der EU ausgelöst." Diese gelte es in eine Richtung zu lenken, "die uns nicht spaltet, sondern eint." In dreizehn Gipfeltreffen in den kommenden Monaten will Tusk das Reformeisen schmieden, solange das Brexit-Feuer lodert.
Migration
Bei der Neufassung der Asylverfahren nach den so genannten "Dublin-Regeln" kommt man nicht voran. Vor allem osteuropäische Mitgliedsstaaten wehren sich gegen eine Verteilung von Flüchtlingen nach einem festen Schlüssel. Einig sind sich alle EU-Staaten, dass Migration aus dem Nahen Osten und Afrika möglichst komplett gestoppt werden sollte. Die Schließung der Route von Libyen über das Mittelmeer ist erklärtes Ziel aller Mitgliedsländer. Italien und Griechenland pochen darauf, dass ihnen auch Asylbewerber abgenommen werden, die sich bereits im Land befinden. Weil einigen Mitgliedsstaaten, auch Deutschland, der Schutz der Außengrenzen nicht ausreicht, haben sie im Innern wieder Personenkontrollen eingeführt. Die darf es nach den Regeln der "Schengen-Zone" für EU-Bürger aber eigentlich nur in begründeten Ausnahmefällen geben. Die EU-Kommission will deshalb die Ausnahme zur Regel machen und Personenkontrollen länger zulassen als bisher. Die Mitgliedsstaaten müssten entsprechend die "Schengen"-Bestimmungen anpassen. Konkrete Beschlüsse zum Asylverfahren gibt es vielleicht im Juni 2018.
Reformen
Der französische Präsident Macron und die EU-Kommission machen Druck. Sie wollen die Finanz- und Wirtschaftspolitik in der 17 Staaten umfassenden Währungsunion stärker bündeln. Deutschland und andere nördliche Staaten sehen das eher skeptisch. Ebenso umstritten ist der Ansatz, eine EU mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei der Integration zu etablieren. Diejenigen, die es wollen, sollen mehr zusammen arbeiten, andere würden zurückbleiben. Gerade Regierungen, die gegen Bevormundung aus Brüssel wettern, wie die polnische, wollen verschiedene Geschwindigkeiten verhindern. Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei wollen bei den wichtigen Projekten dabei sein, aber gleichzeitig bremsen. Konkrete Beschlüsse werden im Juni nächsten Jahres erwartet.
Digitales
Bei der Notwendigkeit die digitale und Internet-basierte Wirtschaft in der EU zu stärken, sind sich alle Mitgliedsländer weitgehend und ausnahmsweise einig. Mehr Förder- und Forschungsmittel sollen für schnelles Internet und neue Geschäftsideen bereitgestellt werden, hat gerade erst ein digitaler Sondergipfel der EU in Tallinn beschlossen. Schon bei der Frage, wie Geschäfte und Dienstleistungen, die im Internet vermittelt werden, besteuert werden sollen, bröckelt die Einigkeit aber wieder. Irland und Luxemburg, die wegen günstiger Steuermodelle viele Internetkonzerne wie Google oder Facebook beherbergen, wehren sich gegen "Digitalsteuern". Nach dem Willen vieler EU-Staaten sollen Firmen künftig dort Steuern zahlen, wo sie Geld verdienen; wo die Kunden sind. Der Firmensitz, der im Zweifelsfall eine Datenwolke ist, soll keine Rolle bei der Steuerbemessung mehr spielen. Beschlüsse sind auch hier auf Dezember vertagt.
Rechtsstaatlichkeit
Die EU-Kommission hat gegen Polen und andere Länder Vertragsverletzungsverfahren angestrengt, weil Mehrheitsbeschlüsse zur Flüchtlingsverteilung nicht umgesetzt werden. Selbst ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes, das sie zur Umsetzung verpflichtet, wollen Ungarn und Polen ignorieren. Dieses Verhalten bringt nach Einschätzung von EU-Kommissar Frans Timmermans die gesamte "Herrschaft des Rechs" ins Wanken, auf der die EU aufbaut. Gegen Polen könnten die Mitgliedsstaaten auf Empfehlung der EU-Kommission ein noch nie dagewesenes Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge einleiten. Die polnische nationalkonservative Regierung gefährdet durch den Umbau der Justiz die Rechtsstaatlichkeit des Landes, glaubt die EU-Kommission. Artikel 7 würde es der EU erlauben, Polen im Extremfall die Stimmrechte zu entziehen und praktisch von der EU-Mitgliedschaft zu suspendieren. Ob es unter den Staats- und Regierungschefs der EU für das Artikel 7-Verfahren bereits bei diesem Gipfeltreffen eine Mehrheit gibt, ist fraglich. Ansonsten gilt: Wiedervorlage im Dezember oder März oder Juni.
Iran-Abkommen
Einig sind sich die EU-Staaten in ihrer Haltung gegenüber den USA. Das Atomprogramm-Abkommen mit dem Iran soll weiter erfüllt werden. Die Anwürfe von US-Präsident Trump werden zurückgewiesen. Im Nordkorea-Konflikt werden die EU-Regierungschefs beide Seiten zu Mäßigung und einer friedlichen Lösung aufrufen.
Das Fell des Bären
Die beiden EU-Agenturen, die heute noch in London beheimatet sind, sollen noch vor dem Brexit auf den Kontinent umziehen. Frankfurt am Main bewirbt sich um die Behörde für Bankenaufsicht. Bonn möchte die Agentur für Arzneimittelzulassung abstauben. Doch es gibt viele Mitbewerber. Fast 20 Mitgliedsstaaten haben sich um eine der beiden Agenturen bemüht, die viele Arbeitsplätze und ein entsprechendes Budget mitbringen. Es läuft ein kompliziertes Verfahren, das der Vergabe der Olympischen Spiele ähnelt. Entschieden wird aber erst Mitte November, nicht bei diesem Gipfeltreffen.