EU-Visumfreiheit für Ukrainer
10. Juni 2017Jetzt ist es so weit. Nach elf Jahren mühsamer Verhandlungen zwischen Kiew und Brüssel steht auch den Ukrainern die EU-Visumfreiheit zu - so wie bereits den Moldauern (seit 2014) und Georgiern (seit März). Die Ukraine musste zuerst einen EU-Forderungskatalog von fast 150 Punkten abarbeiten, darunter eine bessere Grenzsicherung, aber auch eine ernsthafte Korruptionsbekämpfung.
Vom Stichtag 11. Juni an dürfen nun Ukrainer mit biometrischen Reisepässen als Touristen ohne Visum in die Schengenstaaten einreisen - für bis zu 90 Tage pro Halbjahr. Allerdings sind die Hürden hoch. Bisher haben die ukrainischen Behörden erst rund 3,3 Millionen biometrische Pässe ausgegeben - und das bei einer Bevölkerung von rund 42 Millionen. Zudem müssen Reisende 50 Euro pro Aufenthaltstag an der EU-Grenze in bar vorzuweisen, dazu eine Hotelreservierung oder Privateinladung, wie das polnisch-ukrainische Monatsmagazin "Nasch Wibir" ("Unsere Wahl") berichtet. Arbeiten dürfe man in dieser Zeit nicht - außer in Polen, ergänzt das Magazin in seiner "Visafrei-Gebrauchsanleitung".
Ein Symbol für Europa
"Dies ist ein Riesenschritt Richtung Europa", begrüßte der ukrainische Staatspräsident Petro Poroschenko Mitte Mai das EU-Dokument zur Visafreiheit. "Wir lösen uns von der postsowjetischen Vergangenheit, unsere Anbindung an Europa wird unumkehrbar".
"Von den neuen Regelungen profitieren der Mittelstand, Geschäftsleute und die Jungen", sagt der Kiewer Politologe Wolodymyr Fesenko. "Die EU-Visafreiheit ist für die Mehrheit der Ukrainer deshalb vor allem ein Symbol, das die proeuropäische Einstellung stärken dürfte." Überall in der ukrainischen Hauptstadt weisen Plakate auf die Neuerung hin.
Der Ukraine drohe eine demografische Katastrophe, warnen allerdings ukrainische Oppositionspolitiker. Mit der Visaliberalisierung würden bis zum Jahr 2020 weitere fünf Millionen Ukrainer das Land verlassen, haben Pessimisten hochgerechnet. Seit der Unabhängigkeit von 1991 sind bereits mindestens zehn Millionen Ukrainer ausgewandert.
Abwanderung Richtung Westen
Vor allem die Westukraine gilt als traditionelles Auswanderungsgebiet. Hunderttausende zogen von dort seit Ende der 1990er Jahren als Kinder- und Altenbetreuerinnen vor allem nach Italien und Portugal. Auch in Polen sind Reinigungskräfte und Bauarbeiter aus der Ukraine seit Jahren sehr gefragt. Alleine im ersten Quartal dieses Jahres wurden dort 460.000 neue Arbeitsbewilligungen an Ukrainer vergeben. Polen versucht über gezielte Anwerbung von Ukrainern, nicht nur sein Facharbeiterproblem zu lösen, sondern auch die eigenen demografischen Probleme in den Griff zu bekommen.
Dazu kocht Polens die rechtspopulistische Regierung von Beata Szydlo ihr eigenes Süppchen mit dem Thema Einwanderung aus der Ukraine. Auf dem EU-Parkett hat Szydlo die vermutlich rund eine Million ukrainischen Gastarbeiter im Lande kurzerhand als Flüchtlinge umdeklariert. Im Unterschied zu Migranten aus dem arabischen Raum wurden die Ukrainer wegen ihrer kulturellen Nähe lange durchaus willkommen geheißen. Seit Beginn der russischen Aggression im Donbass vor drei Jahren sowie der Wirtschaftskrise in der Ukraine hat sie die Zahl der Ukrainer in Polen um mindestens ein Drittel erhöht.
Die Angst in Polen
Dass ihre Zahl weiter zunehmen wird, glauben auch polnische Experten. Dabei kursieren jedoch ganz unterschiedliche Daten, die Spekulationen scheinen grenzenlos. Inzwischen blasen viele Polen den "Ukrainer-Alarm": Vier von zehn Firmen würden schon heute die billigeren Ukrainer den Polen vorziehen. Eine Million Ukrainer seien bereits im Lande, warnt das Onlineportal "Business Insider". Gleichzeitig befinden sich 2,5 Millionen Polen als Gastarbeiter im Ausland. Klagen kommen auch vom Grenzschutz: Dieser erwartet bis zu 30 Prozent mehr Verkehr an den nur acht Übergängen zur Ukraine.
"Die verschärften Einreisekontrollen werden zu elend langen Wartezeiten führen", fürchtet Oleksandr Iwachniuk, ein in Warschau ansässiger ukrainischer Arbeitsvermittler. Sein Zeitarbeitsbüro rechnet damit, dass sich nun jeder zehnte Ukrainer aus Polen vor allem nach Deutschland absetzen wird. "Sonst wird sich nichts ändern", gibt sich Iwachniuk überzeugt. Schon heute suche er händeringend täglich Dutzende niedrig qualifizierte Arbeiter - in der Ukraine und gar in Indien.