EU-Parlament legt sich im Visa-Streit quer
10. Mai 2016Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, sowie die zuständigen Koordinatoren aller Fraktionen haben in Straßburg beschlossen, mit den Beratungen über die geplante Visa-Befreiung erst zu beginnen, wenn die Türkei alle 72 Kriterien erfüllt hat, die die Europäische Union aufgestellt hat. Dies teilte die Sprecherin der Fraktion der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) im Innenausschuss, Monika Hohlmeier, mit.
"Wir können das Abkommen erst dann beraten, wenn die darin vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind", sagte die CSU-Politikerin. "Alles andere wäre nicht rechtmäßig und politisch nicht zu verantworten". Eine "Visa-Liberalisierung für lau" könne es nicht geben. Auch der zuständige Parlamentsausschuss für bürgerliche Freiheiten und Justiz verweigerte in Straßburg die von der EU-Kommission erbetene rasche Beratung über das Thema. Das Europaparlament hat bei Abkommen mit Drittstaaten ein Mitentscheidungsrecht. Somit kann das geplante Visa-Abkommen mit der Türkei ohne Zustimmung der EU-Volksvertretung nicht in Kraft treten.
Erdogan mauert
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan lehnt allerdings bisher eine zentrale Forderung der Europäischen Union ab: eine Reform der türkischen Anti-Terror-Gesetzgebung. Diese Reform gehört zu den fünf offenen Punkten, die die Türkei erfüllen muss, damit die EU Türken wie geplant bis Ende Juni Visumfreiheit einräumt. Erdogan kritisierte diese Schlüsselforderung der EU am Dienstag erneut und nannte sie ein "Desaster". Im Gegenzug rief er die EU auf, zuerst selbst ihre Gesetze für den Anti-Terror-Kampf zu ändern. Er hoffe, dass die EU ihre Zusage einhalten werde, die Visumfreiheit bis spätestens Oktober einzuführen, sagte er in Ankara.
Menschenrechtsgruppen werfen den türkischen Behörden vor, sie nutzten breitgefasste Anti-Terror-Gesetze auch dazu, regierungskritische Journalisten und Akademiker einzuschüchtern und in Haft zu nehmen. Die Regierung in Ankara indes hat erklärt, die Regelungen seien unverzichtbar für den Kampf gegen militante Kurden und die Extremistenmiliz "Islamischer Staat".
Die Befreiung von der Visa-Pflicht ab Ende Juni wurde Ankara im Zuge der Verhandlungen über einen Flüchtlingspakt in Aussicht gestellt. Der im März vereinbarte Pakt sieht vor, dass die Türkei alle auf irregulärem Weg auf die griechischen Inseln gelangten Migranten zurücknimmt. Im Gegenzug nimmt die EU für jeden abgeschobenen Syrer einen anderen syrischen Flüchtling aus der Türkei auf.
Gemeinsamer Grenzschutz überfällig
Der belgische Vorsitzende der Liberalen-Fraktion im EU-Parlament, Guy Verhofstadt, betonte mit Blick auf den Visa-Konflikt: "Statt zu versuchen, diesen Deal mit der Türkei zum Funktionieren zu bringen, sollten wir lieber dafür sorgen, dass wir bis Ende Juni einen europäischen Grenzschutz aufgestellt haben." Er fügte hinzu: "Die einzige Möglichkeit, das Flüchtlingsproblem zu lösen, liegt darin, dass wir selbst unsere Hausaufgaben machen." Dieser Grenzschutz müsse auch dann eingesetzt werden können, wenn nicht alle Mitgliedsstaaten damit einverstanden seien. Die von der EU-Kommission vorgeschlagene Verteilung von Asylsuchenden auf andere EU-Staaten habe nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn auch ein europäischer Rückführungsmechanismus für abgelehnte Asylbewerber geschaffen werde.
Die Co-Vorsitzende der Grünen-Fraktion, Rebecca Harms, betonte, eine Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen sei nicht vorübergehend, sondern dauerhaft nötig. Sie forderte eine "großzügige europäische Quote" für die Ansiedlung von Flüchtlingen. Anders könne den Schleppern nicht das Handwerk gelegt werden.
Die EU-Kommission bestätigte unterdessen, dass ein für Freitag geplantes Treffen zu verschiedenen Fragen der Beziehungen mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu und Europaminister Volkan Bozkir verschoben wurde. Ein neuer Termin ist laut einer Kommissionssprecherin noch nicht festgesetzt. Von EU-Seite sollten die Außenbeauftragte Federica Mogherini und Erweiterungskommissar Johannes Hahn teilnehmen.
kle/gri (afp, dpa, rtr)