EU-Kommission: Mehr Realismus bei Staatsschulden
26. April 2023Der EU-Kommissar für Wirtschaft, Paolo Gentiloni, war von 2016 bis 2018 Ministerpräsident Italiens. Er kennt sich mit hohen Staatsschulden, schwachem Wachstum und den Auflagen der EU-Kommission aus. Schließlich musste er in jenen Jahren versuchen, die komplexen Regeln des "Stabilitäts- und Wachstumspaktes" zu erfüllen, der vor allem für die Länder der Euro-Währungsgemeinschaft gilt. Der Pakt wurde vor inzwischen 26 Jahren vereinbart und schreibt im Kern eine Neuverschuldung von weniger als drei Prozent und eine Gesamtverschuldung des Staates von maximal 60 Prozent vor, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt. Italien und viele andere EU-Mitgliedsstaaten halten die Schuldenregeln seit Jahren nicht ein. Deshalb sei es dringend nötig, den Pakt zu reformieren, argumentiert Paolo Gentiloni, der jetzt in der EU-Kommission sozusagen auf der anderen Seite des Verhandlungstisches sitzt.
Ist mehr Realismus gefragt?
"Wir brauchen einen realistischen Weg zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte", sagte der EU-Kommissar in Brüssel. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der 1997 vor allem von Deutschland zum Schutz des Euro durchgesetzt wurde, habe nicht dazu geführt, dass die Schuldenstände niedrig seien. Zweimal, 2005 und 2011 nach der Finanzkrise, wurde der Pakt bereits renoviert. Das habe aber nicht geholfen, meinen die EU-Kommission und auch die Mehrheit der Mitgliedsstaaten. Die Versuche, den Schuldenpakt mit rigiden Ausgabenkürzungen durchzusetzen, der sogenannten Austerität, habe in vielen Staaten zu einbrechendem Wachstum oder sogar Rezession geführt, und zwar schon lange vor der Corona-Pandemie.
Nach Ausbruch des Virus wurden im März 2020 die Regeln für Neuverschuldung und Gesamtverschuldung gemeinschaftlich von allen EU-Staaten vorübergehend außer Kraft gesetzt. Die enormen Ausgaben für die Pandemie-Bekämpfung und die Folgen konnten mit riesigen Schuldenbergen finanziert werden. Diese Ausnahme gilt immer noch, soll nach dem Willen der EU-Kommission aber am 1. Januar 2024 auslaufen.
Mehr Eigenverantwortung
Das vor der Pandemie angestrebte Ziel, die Haushalte irgendwann auszugleichen, haben nur wenige Staaten zweitweise erreicht, darunter Deutschland. Die EU-Kommission schlägt jetzt nach Rücksprache mit den Mitgliedsstaaten und Unterhändlern des Europäischen Parlaments vor, die Regeln an entscheidenden Stellen zu lockern. "Wir gehen weg von dem Ansatz, dass alle über einen Kamm geschoren werden", erklärte der Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, bei der Vorstellung des aufgepeppten Paktes in Brüssel. Mehr Eigenverantwortung für die verschuldeten Mitgliedsstaaten sei das neue Rezept, sagte Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni.
Die Regierungen sollen für ihre Länder mittelfristige Reformpläne entwerfen und selbst entscheiden, wie schnell und mit welchen Mitteln sie die Schulden zurückführen und die Quote für das Haushaltdefizit einhalten wollen. Sie erhalten mehr Zeit und können Investitionen der öffentlichen Hand in bestimmte Sektoren wie Umweltschutz, Digitalisierung oder auch Verteidigung aus der Verschuldung herausrechnen. Die bisherige Forderung, jedes Jahr ein Zwanzigstel der Schulden, die über 60 Prozent des BIP liegen, abzubauen, wird aufgegeben. Der Pfad zum Schuldenabbau wird von der EU-Kommission geprüft und die "Tragfähigkeit" der Schulden wird bewertet. Wie das genau passieren soll, ist allerdings noch umstritten.
60 Prozent und drei Prozent
Die vor 26 Jahren erdachten Grenzen von drei Prozent für die Neuverschuldung und 60 Prozent für die Gesamtverschuldung sollen erhalten bleiben. Das ist wohl ein Zugeständnis aus Deutschland und anderen "frugalen" Staaten im Norden der EU, die eher auf strenge Regeln pochen. Die Strafen für das Nichteinhalten der Schuldenregeln sollen nicht mehr so drakonisch ausfallen wie bisher. "Hätte man die Geldstrafen in Milliardenhöhe, die heute im Pakt vorgesehen sind, wirklich eingetrieben, wären die betreffenden Länder noch weiter geschwächt worden", räumte der Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, ein. Deshalb sei es sinnvoll, das Strafmaß zu verkleinern und die Strafen dann aber wirklich anzuwenden, was bis heute noch nie geschehen sei.
Berlin will (noch) nicht zustimmen
Nach einer ersten Durchsicht der Vorschläge aus Brüssel zeigte sich der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) ablehnend. Es brauche noch viele Veränderungen und viel Zeit für Diskussionen. Lindner, der im Bundeshaushalt die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse einhalten will, fordert, hochverschuldeten Staaten in der EU klare Vorgaben zu machen. Man brauche "numerische Leitplanken". Das können man den Schuldenmachern nicht einfach selbst in mittelfristigen Plänen überlassen, heißt es aus der Bundesregierung. Der deutsche Finanzminister hat selbst Hunderte Milliarden an Ausgaben in Sondervermögen und Sonderhaushalten geparkt, zum Beispiel 100 Milliarden für die Ausrüstung der Bundeswehr. Diese Schulden werden zwar nicht im Bundeshaushalt geführt, die EU-Kommission zählt sie aber sehr wohl zu den Staatsausgaben hinzu, die den europäischen Fiskalregeln unterliegen.
Der Haushaltsexperte der Grünen im Europäischen Parlament, Rasmus Andresen, forderte in Brüssel im Gegensatz zur FDP noch mehr Spielraum für Investitionen aus der Staatskasse. "Neue Fiskalregeln dürfen nicht dazu führen, dass die soziale Spaltung zunimmt. Statt starrer Schuldenabbauregeln, die zu Austerität und Sozialkürzungen führen können, müssen die Regeln öffentliche Daseinsvorsorge berücksichtigen", erklärte der grüne Politiker, dessen Partei in Berlin mit FDP und SPD die Regierungskoalition, die sogenannte Ampel, bildet.
"Zähes Ringen"
"Die Kommission hat bei der Reform der Schuldenregeln aus den Augen verloren, worum es wirklich geht: Finanzstabilität. Mit dem Verwässern der Schuldenregeln untergräbt die Kommission das Fundament unserer gemeinsamen Währung", moniert dagegen der konservative Europaabgeordnete Markus Ferber von der CSU. Der Finanzexperte der christdemokratischen Fraktion beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit Schuldenkrisen und Reformversuchen in der EU. Er sieht schwierige Verhandlungen zwischen den Mitgliedsstaaten und dem europäischen Parlament voraus. "Die Positionen zwischen Nord und Süd liegen weit auseinander. Die Verhandlungen werden zäh. Allen Beteiligten sollte klar sein. Wenn man sich nicht einigen kann, greift im nächsten Jahr das alte Regelwerk."