Gemeinsame europäische Schulden zur Bekämpfung einer nie dagewesenen Krise? So hat es die EU in der Corona-Krise 2020 entschieden. Deutschland in Gestalt von Bundeskanzlerin Angela Merkel machte damals eine scharfe Kehrtwende in der Fiskalpolitik. Gemeinsame europäische Verschuldung hatte Deutschland stets kategorisch abgelehnt. Doch die Übermacht der Krise, die ganz Europa in einen drastischen Abschwung stürzte, zwang zum Umdenken.
750 Milliarden Euro an Zuschüssen und billigen Krediten soll der Corona-Hilfsfonds insgesamt ausschütten. Ob der gewünschte Effekt erzielt wird und Schulden jemals zurückgezahlt werden, wie das Merkel und Co. versprochen haben, ist noch lange nicht erwiesen. Die gemeinsame Verschuldung, für die vor allem die leistungsstarken Mitgliedsstaaten garantieren, sollte die absolute Ausnahme bleiben.
Steilvorlage aus Berlin
Bis heute. Denn immer mehr Mitgliedsstaaten und auch zwei EU-Kommissare haben beim Treffen der Finanzminister in Luxemburg erneut "europäische Solidarität", sprich mehr Schulden auf EU-Ebene gefordert. Angst geht um, ja Panik macht sich breit, dass die gewaltige, von Russland verursachte Energiekrise, zu einer Kernschmelze der industriellen Produktion in Europa führen könnte. Und hochverschuldete Regierungen erkennen, dass sie einfach nicht die fiskalischen Möglichkeiten haben, Unternehmen und Wahlvolk im eigenen Land von den galoppierenden Preisen zu entlasten. Statt zu sparen, neue Energiequellen zu erschließen und die Bevölkerung auf harte Zeiten vorzubereiten, kommt der zu erwartende bequemere Ruf nach Europa, sprich den potenteren Staaten - allen voran Deutschland.
Der noch vergleichsweise unerfahrene deutsche Finanzminister Christian Lindner hatte auch eine echte Steilvorlage geboten: Erst am vergangenen Donnerstag kündigte er gemeinsam mit dem Kanzler und Wirtschaftsminister Habeck einen 200 Milliarden Euro schweren Rettungsschirm für die deutsche Wirtschaft an - aus reiner innenpolitischer Not in Deutschland geboren.
Lindner hat in der Berliner Regierungskoalition zugestimmt, dass er wider alle Schwüre mehr Schulden machen muss, um Deutschland durch die Energiekrise zu steuern. Der "Doppelwumms", wie das der Bundeskanzler in seiner Comic-Sprache nennt, weckt bei den europäischen Nachbarn natürlich Begehrlichkeiten: Das Geld für den Rettungsschirm für Made in Germany, von dem noch völlig unklar ist, wie er eigentlich funktionieren soll, hätte Deutschland doch auch für die EU aufwenden können.
Ausgerechnet Orban und Meloni
Hätte es? Sollte es? Nein! Die Energiekrise ist mit der Corona-Krise nicht zu vergleichen. Sie geht viel tiefer, wird viel teurer und sie wird bleiben. Corona hat nur eine Nachfragelücke gerissen und ist irgendwann vorbei. Die extrem teure Energieknappheit wird anhalten, auch wenn Wladimir Putin seinen Krieg hoffentlich längst verloren haben wird. Und anders als in der Corona-Krise werden weder der Staat noch Europa die Menschen vor den drastischen Folgen der von Putin ausgelösten Rezession schützen können. Das wird Wohlstand und Lebensstandard kosten.
Die Finanzministerinnen und Finanzminister der EU hatten sich versprochen, Rettungsmaßnahmen zu koordinieren und ihre eigene Industrie nicht wettbewerbsschädlich zu subventionieren. Davon ist nicht viel zu sehen. Angesichts der Mega-Krise ist sich jeder selbst der Nächste. Dass nun ausgerechnet die künftige rechtsradikale Ministerpräsidentin Italiens, Giorgia Meloni, und der EU-feindliche Autokrat Viktor Orban europäisches, sprich deutsches Geld, einfordern, ist ziemlich dreist. Italien hat längst eigene Rettungspakete aufgelegt und kassiert bereits 200 Milliarden Euro aus dem Corona-Hilfsfonds. Ungarn bezieht weiter billiges Gas und Erdöl aus Russland, wettert gegen Sanktionen. Der Putin-Freund Viktor Orban hat in dieser Krise keinen einzigen europäischen Cent verdient!
Die Wirtschaftskrise wird sich in den kommenden Monaten zuspitzen, falls der unsinnige Krieg von Russland gegen die Ukraine weitergeht. Der Druck auf den deutschen Finanzminister, eine weitere Kehrtwende hinzulegen und auch europäischer Verschuldung mit unbekannten Folgen zuzustimmen, wird wachsen.
Die EU muss Fragen beantworten
Zunächst sollten sich die europäischen Regierungen darauf konzentrieren, gemeinsam Energie einzukaufen und sich an den wild gewordenen Märkten nicht gegenseitig zu überbieten. Außerdem sollten sie alles unternehmen, um Übergewinne bei europäischen Konzernen gemeinsam abzuschöpfen und die Erlöse zu verteilen. Das wäre ein guter Ansatz für europäische Solidarität.
Zudem müssen die Europäer endlich überlegen, wie mit einem Gas- oder Strommangel auf den grenzenlosen europäischen Märkten umgegangen werden soll. Was passiert, wenn das Gas-Transitland Deutschland zu wenig Gas erhält, um noch weiter seine Nachbarn beliefern zu können? Das sind konkrete Fragen europäischer Solidarität, die die Politik jetzt beantworten muss. Der einfache Ruf nach dem Zahlmeister Deutschland hilft hingegen überhaupt nicht weiter.