ESC-Eklat erhitzt die Gemüter
6. März 2015"Das ist wirklich das allererste Mal, dass auf offener Bühne ein Kandidat seine Wahl ablehnt, und es ist eine Sache, die mich persönlich sehr, sehr verärgert, weil damit eine demokratische Entscheidung des deutschen Fernsehpublikums ad absurdum geführt worden ist", meint Dr. Irving Wolther gegenüber der ARD. Der Sprach- und Kulturwissenschaftler verfasste die erste Doktorarbeit über den Eurovision Song Contest.
Der eigentlich per Telefonvoting ermittelte Gewinner des deutschen Vorentscheids, Andreas Kümmert, hat sich bisher nicht zu Wort gemeldet. Seine Plattenfirma, Universal Music, erklärte sich Kümmerts Rückzug in einem auf der ARD-Seite www.eurovision.de veröffentlichten Interview damit, dass ihm der Rummel um seine Person zu groß geworden wäre.
Darüber diskutieren die ESC-Fans erhitzt im Internet: Die Reaktionen reichen von Verständnis und guten Wünschen für den zurückgetretenen Sieger,
bis hin zu Zorn über die Entscheidung. Manche Zuschauer fühlen sich um ihre Stimme betrogen:
Respekt und Enttäuschung
Ann Sophie, die nun am 23. Mai für Deutschland in Wien antreten soll, zeigte auf der Pressekonferenz nach der Veranstaltung Verständnis für Kümmert: "Ich finde das mega mutig, dass er in dem Moment so auf sein Herz gehört hat."
Der Journalist und ESC-Experte Jan Feddersen hat mehrere Bücher über den Song Contest geschrieben. Er äußerte gegenüber der ARD Kritik an der Entscheidung Kümmerts: "Im Grunde genommen hat Andreas Kümmert auch Ann Sophie um das Siegesgefühl betrogen und auch sein Publikum missachtet. […] Auf eine gewisse Art, bei aller Enttäuschung, verstört und empört mich das zugleich."
Die spontane Entscheidung von Moderatorin Barbara Schöneberger, Ann Sophie anstelle von Kümmert nach Wien zu schicken, sorgte nicht nur beim Publikum im Saal in Hannover für Unmut:
Sänger Rea Garvey schlägt sogar vor, gleich die Moderatorin zum ESC zu schicken:
Alles geplant?
Manch einer vermutet sogar einen Marketing-Trick von Kümmert:
Andere finden, dass Kümmert mit seinem Entschluss die Werbetrommel nicht nur für sich gerührt hat:
ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber sagte noch am Abend des Vorentscheids auf der Pressekonferenz, wie überrascht alle Beteiligten von der Reaktion waren: "Wir haben mit offenem Mund dagestanden." Außerdem fügte er hinzu: "Es war seine Idee, beim ESC dabei sein zu wollen, also, das hat ihm niemand gesagt, sondern Andreas Kümmert hat von sich aus gesagt: 'Ich möchte gerne dabei sein.'"
Keine Wiederholung
Jürgen Lippert, Bürgermeister von Kümmerts Heimatstadt Gemünden, hatte sich eigentlich schon auf Wien gefreut: "Er ist immer wieder für eine Überraschung gut. Er ist einfach so. Und so überraschend, wie seine Entscheidung war - irgendwie passt es trotzdem."
Viele Zuschauer, wie Dr. Irving Wolther, halten nun die ganze Abstimmung für irregulär: "Der Ausgang der Wahl war dadurch vollkommen verzerrt, eigentlich müsste die Wahl wiederholt werden, im Hinblick auf die Zuschauer, die Geld ausgegeben haben für Stimmen, die nicht gezählt worden sind."
Auch der langjährige ESC-Moderator Peter Urban hätte einen anderen Ablauf für besser erachtet: "Ich hätte mir gewünscht, wenn er solche Gedanken hat, dann hätte er sie vorher äußern können, dann hätte er nicht jemand anderem einen Platz im Finale oder Halbfinale weggenommen, das finde ich einfach nicht gut, er hätte auch daran denken müssen, dass er auch Leuten, die ihn gewählt haben – und das waren sicher sehr viele – jetzt praktisch die Stimme wegnimmt."
Trotz des ungewöhnlichen Ausgangs des Vorentscheids und der heftigen Reaktionen wird die Veranstaltung voraussichtlich nicht wiederholt. Ein Sprecher der European Broadcasting Union, die den ESC veranstaltet, betonte gegenüber der Online-Redaktion der Zeitung "Die Welt": "Wir haben keine Vorgaben, wie die Nationen ihre Künstler für das Finale auswählen". Daher gefährde der Rückzug Kümmerts Deutschlands Teilnahme am Eurovision Song Contest nicht.