Ungewissheit in Nigeria
25. Juni 2014Es ist nicht viel bekannt über die jüngste Massen-Entführung im Nordosten Nigerias, doch selbst die wenigen Details sind schockierend: Bis zu 91 Dorfbewohner sollen laut Zeugen nach Angriffen im Bundesstaat Borno Ende letzter Woche verschleppt worden sein. Der Großteil von ihnen seien Frauen und Mädchen. Einige Entführungsopfer sollen erst drei Jahre alt sein. Beobachter vermuten, dass die islamistische Terrorgruppe Boko Haram dahinter steckt. Doch bisher hat sie sich nicht zu der Tat bekannt. Die nigerianische Regierung sagte laut Nachrichtenagentur Reuters am Mittwoch (25.06.2014), es gebe keine Hinweise auf eine Entführung. Doch auf einer Pressekonferenz des Anti-Terrorismus-Informations-Zentrums in Nigerias Hauptstadt Abuja wurde deutlich, wie schwierig die Überprüfung vor Ort ist: "Wir haben mit den Menschen dort gesprochen. Alle sagen, sie haben gehört, dass etwas passiert ist. Aber niemand kann das bestätigen, nicht einmal die Behörden vor Ort", sagte Mike Omeri, Vorsitzender des Zentrums.
Im Bundesstaat Borno hatte Boko Haram bereits Mitte April über 200 Schülerinnen verschleppt, die bis heute nicht freigekommen sind. Gerade vor diesem Hintergrund nehmen Beobachter wie der Oberst Abubakar Dangiwa Umar die Berichte aus dem Bundesstaat Borno als besonders erschreckend wahr: "Das ist sehr schockierend und überraschend, dass so etwas trotz des Ausnahmezustandes passieren kann", sagte er der DW. Das Militär sei vor Ort und in Alarmbereitschaft, und könne trotzdem nichts machen. "Das ist wirklich sehr befremdlich", so der ehemalige Militär.
Entführungen als erprobtes Mittel der Aufständischen
Auch ein Journalist einer nigerianischen Zeitung, der seinen Namen nicht nennen möchte, ist bestürzt über die Entwicklung im Nordosten: "Hier werden fundamentale Menschenrechte verletzt, die unsere Regierung zu beschützen versprochen hat", sagte er im DW-Interview. Entführungen durch Aufständische habe es in der Region schon seit mehreren Jahren gegeben, berichtet er: "Sie haben Jungen entführt, um sie für ihre Kämpfe zu rekrutieren, und Mädchen, um sie zu verheiraten und zu versklaven." Neu ist jetzt die Dimension der Entführungen, die nun auch internationale Aufmerksamkeit wecken. Die Bewegung "Bring back our girls" organisierte nach der Entführung der Schülerinnen im April 2014 weltweit Protestmärsche und eine Kampagne in sozialen Netzwerken, zu den Unterstützern gehören Prominente wie Michelle Obama und Angelina Jolie. Doch in letzter Zeit sei es in Nigeria stiller um die Bewegung geworden, sagt der Journalist. Sie werde von der Regierung behindert und sei deswegen nicht mehr so aktiv wie zu Beginn.
Was den Journalisten und seine Mitmenschen am aktuellen Fall besonders schockiere, seit das junge Alter einiger der Entführungsopfer: "Die Leute fragen sich: Was werden die Entführer mit den dreijährigen Mädchen machen?"
Nigerias Regierung in der Pflicht
Die Ungewissheit ist für die Angehörigen der Opfer besonders quälend. Seit über zwei Monaten werden mehr als 200 Mädchen vermisst, die Boko Haram aus einer Schule entführte. Auch wenn sich die Terrorgruppe bisher nicht zu den neuen Entführungen bekannt hat, sehen viele Beobachter einen Zusammenhang. Es wird vermutet, dass Boko Haram mit den jüngsten Entführungen seinen Forderungen Nachdruck verleihen will, inhaftierte Boko-Haram-Kämpfer freizulassen. Auch wenn viele Nigerianer dagegen sind, dass ihre Regierung mit Boko Haram verhandelt, sieht Ex-Militär Dangiwa Umar darin den einzigen Weg. Doch der sei nicht einfach: "Boko Haram fordert, dass Menschen freigelassen werden, die bereits wegen Mordes an unschuldigen Zivilisten verurteilt worden sind. Für die Regierung ist es schwierig, solche Bedingungen zu akzeptieren", so Dangwia Umar.
Auch der Zeitungsjournalist sieht die nigerianische Regierung in der Pflicht zu handeln: "Die Regierung muss sich anstrengen und das Leben ihrer Bürger beschützen. Das ist das Einzige, was noch etwas ändern könnte." Doch den politischen Willen dazu könne er nicht erkennen. Aus Recherchen wüssten er und seine Kollegen, wo die im April entführten Schülerinnen seien. "Sie werden in kleinen Orten gefangen gehalten. Nachts dürfen sie raus, um Wasser zu holen", berichtet er. "Doch die Soldaten, mit denen wir gesprochen haben, sagen, sie hätten keine Anweisung, die Mädchen zu befreien." Zu groß sei wohl die Sorge um das Leben der Entführungsopfer, vermutet der Journalist.
"Wir beten, dass die Regierung bald etwas unternimmt", sagt der Journalist. "Doch viele Menschen hier haben die Hoffnung in die Regierung und ihre Fähigkeiten längst aufgegeben. Sie verlassen sich lieber auf ihre Gebete."