Erfolgsrezept Herzlichkeit
3. Oktober 2015Silke Lohr führt über das Gelände: Sechs weiße Messezelte mit spitzen Dächern stehen hier, ein Container für die Waschmaschinen und eine Turnhalle, die als Speisesaal dient. Die Ausstattung ist weder besser noch schlechter als in vielen anderen Notunterkünften, die diesen Sommer in ganz Deutschland errichtet wurden.
Trotzdem scheinen sich viele der Bewohner sehr wohl zu fühlen. "Miss", so nennt ein älterer Mann aus Pakistan Silke Lohr, "ist sehr hilfsbereit, sehr nett. Sie ist ein guter Mensch, ein herzlicher Mensch. Sie hilft uns so viel." Auch Atif, ebenfalls aus Pakistan, will Lohrs Arbeit loben und betont, wie wohl er sich fühlt. Die Wangen von Silke Lohr färben sich leicht rötlich, sie lächelt und schaut zur Seite.
"Man muss Flüchtlingen mit dem Herzen gegenübertreten"
Lohr ist bei der Stadt Königswinter angestellt und leitet den Bereich Soziales und Asyl. Eigentlich findet ihre Arbeit hauptsächlich am Schreibtisch statt. Doch als an einem Mittwoch Ende August der Anruf von der Bezirksregierung kam mit der Bitte, bis zum Freitag 100 weitere Flüchtlinge aufzunehmen, änderte sich das schlagartig.
Seitdem sind Acht-Stunden-Tage für Lohr Vergangenheit. Erst am Vortag, erzählt sie, war sie wieder bis Mitternacht im Lager. Eines der Kinder war krank. "Ich finde es wichtig, dass man den Leuten auch mit dem Herzen gegenübertritt", sagt Lohr. "Und wenn man dann die ganze Zeit auf die Uhr schaut und sagt, ich muss jetzt aber nach Hause, dann macht man es nicht mit dem Herzen."
Während die Bundesrepublik über vermeintlich unerzogene Flüchtlinge, Trennung nach Religionen und die Kürzung von Asylbewerberleistungen diskutiert, lösen Silke Lohr und die Stadt Königswinter ihre Probleme einfach auf ihre eigene - pragmatische - Art und Weise.
Rentner helfen ehrenamtlich aus
Hubert Dütz ist ein gutes Beispiel dafür. Er war 18 Jahre lang bei der Stadt Königswinter für die Unterbringung und Betreuung von Asylbewerbern zuständig. Seit zwei Jahren ist er Pensionär. Eigentlich würde er heute spazieren gehen, erzählt er. Die Sonne scheint so schön, die ersten Blätter fallen von den Bäumen. Doch der 67-Jährige steht am Eingang des roten Bürocontainers. Er ist heute wieder im Dienst - freiwillig.
Als der Bürgermeister ihn vor rund sechs Wochen um seine Hilfe bat, sagte er sofort zu. "Die Arbeit hat mir damals schon Spaß gemacht und sie macht mir auch heute noch Spaß." Im Container sitzen noch zwei weitere Personen, ebenfalls ehemalige Angestellte der Stadt, die ehrenamtlich und gegen eine kleine Aufwandsentschädigung im Lager aushelfen.
Von Syrien über Albanien bis Eritrea - die derzeit 80 Flüchtlinge kommen aus über zehn unterschiedlichen Ländern. Dass Menschen aus demselben Land und mit mit der gleichen Religion in ein Zelt kommen, ist eine Selbstverständlichkeit. Als es einmal in den sechs Wochen Streit gab, wurden die Schlafplätze getauscht. In Königswinter wird nicht groß diskutiert, sondern einfach gemacht.
Ein Vater schiebt seine Tochter auf einem Fahrrad über den Platz. Halb auf Englisch, halb auf Deutsch erklärt Lohr ihm, dass weiter drüben auch ein Fahrrad mit Stützrädern steht. Sie deutet mit dem Finger auf den "Autoparkplatz". Den hat sie eingeführt, nachdem sie mehrmals über stehen gelassene Kinderfahrräder und Bobbycars gestolpert war. Seitdem parken die kleinen Fahrzeuge alle in einer Ecke, erzählt sie nicht ganz ohne Stolz.
Familiäre Atmosphäre - trotz Lärm und Kälte
Die Bedingungen für Flüchtlinge und Angestellte sind auch in Königswinter nicht die besten. Die sechs Zelte wurden mitten auf einem Parkplatz hochgezogen. Umrahmt wird das Lager von den Schienen der Deutschen Bahn, auf denen alle paar Minuten lange Güterzüge vorbeidonnern, und einer viel befahrenen Bundesstraße. Die Flüchtlinge schlafen dicht an dicht auf unbequemen Feldbetten, zur Toilette müssen sie über das gesamte Gelände laufen. Und nachts wird es - trotz der eingebauten Heizung in den Zelten - ganz schön kalt, erzählt Valerie, eine junge Frau, die aus Kamerun geflüchtet ist.
Aber irgendwie haben Silke Lohr und ihr Team es geschafft, dass Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen und Geschichten von Bombenanschlägen und nächtlichen Überfahrten über das Mittelmeer erzählen können, friedlich zusammenleben.
"Bei uns ist es auch familiärer, weil wir nur so wenige sind. Nach zwei Tagen kennt man eigentlich schon jeden mit Namen, kann mit jedem sprechen", erzählt Lohr. Bei größeren Unterkünften mit bis zu 700 Menschen, wie es sie vielerorts in Deutschland gibt, würde das sicherlich nicht so funktionieren, so Lohr: "Ich kenne alle ja seit der Ankunft, und da weiß ich auch, wer welche Probleme hat."
Abschied mit Tränen
Viele musste Lohr auch schon weiterschicken. Denn das Zeltlager ist nur eine Notunterkunft. Hier werden die Menschen untergebracht, bis sie ihren Asylantrag stellen können. "Der Abschied war auch oft mit vielen Tränen", sagt Lohr. "Und wenn selbst gestandene Männer weinen, weil sich jetzt alle trennen und sie hier weggehen, da muss ich dann auch selbst mitweinen."
Bald übernimmt das Deutsche Rote Kreuz die Leitung der Notunterkunft. Silke Lohr hat gemischte Gefühle bei dem Gedanken daran: "Ich habe dann auch mal wieder ein bisschen Freizeit. Das hatte ich hier gar nicht, weil ich die hinten angestellt habe. Aber die Leute und ihre Schicksale liegen mir auch sehr am Herzen." Sie weiß schon jetzt, dass sie öfter vorbeikommen wird, um zu schauen wie es den Menschen geht, "aber dann in der Freizeit", lacht sie.