Erdogans Spiel mit dem Feuer
20. Juli 2017Nun also doch: Angesichts der zahlreichen Konflikte mit der Türkei hat Außenminister Sigmar Gabriel eine "Neuausrichtung" der Politik der Bundesregierung gegenüber Ankara angekündigt. Dies sei mit Bundeskanzlerin Angela Merkel abgesprochen, sagt Gabriel. Zu den Maßnahmen gehört nach seinen Angaben unter anderem eine Verschärfung der Reisehinweise für die Türkei. "Wir können gar nicht anders", so Gabriel mit Verweis auf die Festnahme Deutscher in der Türkei.
Im Rahmen der Neuausrichtung soll auch über die Vergabe von staatlichen Hermes-Bürgschaften bei Investitionen von Unternehmen in der Türkei gesprochen werden. "Man kann niemandem zu Investitionen in einem Land raten, wenn es dort keine Rechtssicherheit mehr gibt und sogar Unternehmen, völlig unbescholtene Unternehmen, in die Nähe von Terroristen gerückt werden", sagte Gabriel in Berlin.
Probates Mittel
Das wäre in der Tat ein probates Mittel, die Türkei und ihren kleinen Sultan mit wirtschaftlichen Mitteln unter Druck zu setzen. Die meisten Beobachter glauben, Deutschland und die gesamte EU seien von der Türkei abhängig, weil Ankara Flüchtlinge von Europa abhält. Wegen der geschlossenen Balkanroute gilt dies aber heute längst nicht mehr so wie früher. Umgekehrt aber ist die Türkei wirtschaftlich hochgradig von Europa abhängig. Und unter den europäischen Ländern wiederum steht Deutschland dabei mit Abstand an der Spitze.
Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei. Rund zehn Prozent aller türkischen Exporte mit einem Wert von etwa 14 Milliarden Euro gehen nach Deutschland. An zweiter Stelle folgt Großbritannien. Deutlich abgeschlagen auf Platz drei liegt der Irak. Und noch weit dahinter liegen andere nichtwestliche Länder - soviel zum Thema einer möglichen Neuorientierung Ankaras Richtung Osten als Alternative zur EU.
Angesichts der Neuausrichtung der deutschen Türkei-Politik rechnet die Wirtschaft mit "deutlichen Einbrüchen bei den Exporten". Sollten die im Raum stehenden Maßnahmen umgesetzt werden, würden "auch die Investitionen darunter weiter leiden", erklärte der Außenhandelsverband (BGA) am Donnerstag. Die ohnehin vorhandene Unsicherheit bei deutschen Unternehmen steige angesichts der jüngsten Entwicklungen "noch einmal rapide".
Kein Ersatz für Importe aus Deutschland
Gerade bei der Art der gehandelten Güter ist die Türkei so abhängig von Deutschland wie von keinem anderen Land: Maschinen, elektrotechnische und chemische Erzeugnisse, viele hergestellt von hochspezialisierten deutschen Firmen, lassen sich nicht ohne weiteres aus anderen Ländern beziehen.
Umgekehrt importiert Deutschland vor allem Textilien aus der Türkei, den mit Abstand wichtigsten türkischen Ausfuhrartikel, und - mit großem Abstand, was den Warenwert betrifft - Lebensmittel. Hier aber ist die Türkei für Deutschland als Lieferant durchaus ersetzbar. China oder Bangladesch etwa könnten bei Textilien einspringen, bei Lebensmitteln ist die Palette möglicher alternativer Anbieter noch wesentlich größer.
Türkei nur auf Platz 13
Zwei Zahlen sagen praktisch alles: Deutschland ist für die Türkei der wichtigste Außenhandelspartner; die Türkei kommt für Deutschland aber erst an 13. Stelle, ein krasses Ungleichgewicht.
Eine Besonderheit der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen sind auch die vielen Tochterunternehmen deutscher Firmen in der Türkei. Es sind rund 6800 solcher Firmen, die als Töchter oder eigenständige Gesellschaften in der Türkei produzieren. Kein anderes Land reicht an dieses Niveau heran. Das hat auch mit den vielen in Deutschland lebenden Türken und den damit einhergehenden engen Kontakten zu tun.
Die Türkei verbucht regelmäßig ein riesiges Außenhandelsdefizit mit dem Rest der Welt, weil sie viel mehr einführt als ausführt. Das Loch stopft sie unter anderem mit dem Devisenbringer Tourismus, einem der wichtigsten Wirtschaftszweige. Auch hier standen die Deutschen 2016 an der Spitze mit etwa 15 Prozent der Auslandstouristen.
Die Touristen bleiben weg
Die Tourismusbranche ist in der Türkei ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Traditionell war die Branche, die rund 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet, eine zuverlässige Einnahmequelle. Das änderte sich vor allem im vergangenen Jahr: zuerst geschahen die Anschläge zu Beginn des Jahres 2016 in Istanbul, bei dem auch Deutsche starben, dann der gescheiterte Putsch im Juli.
Die Tourismusbranche erlebte einen Schock; insgesamt brachen die Umsätze um über 40 Prozent ein. Knapp vier Millionen Deutsche verbrachten ihren Urlaub 2016 in der Türkei. Im Vergleich zum Rekordjahr 2015 war das ein Rückgang von fast zwei Millionen Urlaubern.
2017 befindet sich die Branche auf dem Wege der Besserung. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte schon im vergangenen Jahr ein kurzfristiges Charterflugverbot für russische Flugzeuge in die Türkei wieder aufgehoben. Die Anzahl russischer Touristen verfünffachte sich daraufhin bis zum Frühjahr dieses Jahres.
Lira und Wirtschaftswachstum im Keller
Auch bei den deutschen Türkei-Urlaubern gab es im Frühjahr einen leichten Aufwärtstrend. Der aber dürfte nach den jüngsten Ereignissen gestoppt sein. Nach einer repräsentativen Forsa-Umfrage für den Fernsehsender RTL schätzen nur noch zwölf Prozent der Befragten die Türkei als sicheres Urlaubsland ein. 87 Prozent halten das Land nach dem Putschversuch und Erdogans Referendum für eher unsicher. Und diese Umfrage stammt vom April - drei Monate vor den aktuell verschärften Reisehinweisen des Auswärtigen Amtes. Heute ist wahrscheinlich der Anteil der Befragten, die die Türkei als sicher einstufen, eher im einstelligen Bereich zu suchen.
Erdogan hat auch der türkischen Wirtschaft schweren Schaden zugefügt. Konnte die Türkei kurz nach der Jahrtausendwende noch mit traumhaften Wachstumsraten von jährlich mehr als sieben Prozent glänzen, die sogar China in den Schatten stellten, hat sich das Tempo seitdem deutlich verlangsamt, und seit dem dritten Quartal 2016 schrumpft die Wirtschaftsleistung .Die türkische Lira hat seit dem Putschversuch 30 Prozent ihres Wertes verloren, die Inflation liegt bei acht bis neun Prozent, die Arbeitslosigkeit liegt bei über zehn Prozent, und die Ratingagenturen stufen die Türkei inzwischen deutlich schlechter ein als vor wenigen Jahren.
Zur wirtschaftlichen Unsicherheit kommen politische Unwägbarkeiten: Erdogan hat Tausende Menschen einsperren oder suspendieren lassen, er handelt wie ein Autokrat. Dieses Klima färbt auch auf die Geschäftswelt ab. Investoren wünschen sich ein stabiles politisches System, Rechtssicherheit und Planbarkeit. Erdogan steht für das Gegenteil.