Erdogans Kurswechsel in der Kurdenpolitik
21. August 2019Es war ein harter Schlag für die kurdischen Wähler im Osten der Türkei: Für die Städte Mardin, Van und die heimliche Kurdenhauptstadt Diyarbakir ernannte die Zentralregierung in Ankara kommissarische Zwangsverwalter; der Wille der Wähler, die prokurdische Bürgermeister gewählt hatten, wurde nicht berücksichtigt. Die drei überwiegend von Kurden bewohnten Städte waren bei den Kommunalwahlen am 31. März stark umkämpft. Schließlich gewann die prokurdische HDP die Wahlen deutlich. Die Rathäuser der drei Städte musste sie dennoch räumen. "Wir haben Beweise dafür, dass Bürgermeister mit terroristischen Organisationen in Kontakt stehen und sie unterstützen", begründete das Innenministerium den Schritt. Diese Beweise wurden bisher aber noch nicht vorgelegt.
Die Entlassungen werden von vielen kurdischen Wählern und Politikern - wie es HDP-Parteisprecher Saruhan Oluc ausdrückte - als "Anschlag auf die Demokratie" aufgefasst. Der Schritt der türkischen Regierung kam aber nicht unerwartet. Der türkische Präsident hatte vor den Kommunalwahlen mehrfach die mögliche Entsendung von Zwangsverwaltern angedeutet. Zudem sind Statthalter aus Ankara in kurdischen Städten keine Neuheit: Seit 2016 wurden in fast 100 kurdischen Städten gewählte Bürgermeister und Gemeindevorstände durch Zwangsverwalter ersetzt - ungefähr 40 der Abgesetzten sitzen bis heute in Untersuchungshaft.
Freund und Feind im Wechselspiel
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist bekannt für seinen Pragmatismus. Wer Freund ist und wer Feind, das wechselt je nach Stimmung und politischer Lage. Besonders die Kurden wurden bei Erdogans politischen Manövern häufig als Spielball missbraucht.
Vor gerade einmal zwei Monaten war der Umgang mit den Kurden im Land noch freundlicher. Schließlich galten kurdische Wähler seit den Kommunalwahlen Ende März als "Königsmacher": Die HDP-Parteiführung stellte in einigen Städten keinen eigenen Kandidaten auf und rief ihre Wähler dazu auf, stattdessen dem Kandidaten der ebenfalls oppositionellen CHP ihre Stimme zu geben. Ohne kurdische Rückendeckung, so vermuten Beobachter, wäre der Wahlsieg der CHP in einigen türkischen Städten nicht denkbar gewesen.
Als die türkische Wahlkommission (YSK) Neuwahlen für die Oberbürgermeisterwahl in Istanbul ausrief, versuchte die Führung der Erdogan-Partei AKP, beim zweiten Urnengang die kurdischen Wähler auf ihre Seite zu ziehen. Kurz vor der Wahl am 23. Juni kam die Charmeoffensive: Der seit 20 Jahren inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan - für viele Kurden eine Ikone - durfte erstmals seit vielen Jahren wieder Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Noch seltsamer war ein Auftritt des AKP-Kandidaten Binali Yildirim: In der Kurdenhochburg Diyarbakir hielt er eine Rede, in der er Sätze auf kurdisch sprach und sogar die Bezeichnung "Kurdistan" verwendete - normalerweise ein absolutes Tabu für einen Regierungspolitiker. "Diejenigen, die versuchen, uns voneinander zu trennen oder unsere Freundschaft zu zerstören, werden wir Lügen strafen", so Yildirims warme Worte an seine "Freunde".
Verlorenes Spiel
Doch alle Bemühungen um die Gunst der kurdischen Wähler blieben umsonst, Erdogans Schachzug ging nicht auf: Auch bei der zweiten Istanbul-Wahl gewann der Oppositionskandidat Ekrem Imamoglu - mit kurdischen Stimmen. Zudem riskierte Erdogan mit seiner kurdenfreundlichen Politik ein Zerwürfnis mit dem ultranationalen Bündnispartner MHP sowie Stimmenverluste bei nationalistischen Wählern.
Nach der verlorenen Wahl schwenkte der türkische Präsident vom kurdenfreundlichen Kurs zurück auf einen nationalistischen. Die Entlassung der Bürgermeister in den drei Kurden-Metropolen ist Teil dieses Strategiewechsels.
180-Grad-Wenden in der Kurdenpolitik waren - zumindest in der Vergangenheit - ein probates Mittel der Politik Erdogans. Bei den vorletzten Parlamentswahlen im Juni 2015 musste die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit gewinnen, um der Einführung eines Präsidialsystems näher zu kommen. Auch damals setzte die türkische Regierung auf die Stimmen der Kurden. Vor den Parlamentswahlen führte die Regierung drei Jahre lang Friedensverhandlungen mit der Kurdenmiliz PKK - diese sollten den Kurden mehr Rechte verschaffen. Doch auch damals ging der kurdenfreundliche Schachzug nicht auf: Die kurdischen Wähler entschieden sich vor allem für die prokurdische HDP, die erstmals mit 13 Prozent ins Parlament einzog. Die AKP wiederum schnitt historisch schlecht ab. Die Erdogan-Regierung reagierte umgehend: Sie beendete die Gespräche mit der PKK, die Rhetorik wurde nationalistischer, zudem begann eine Militäroperation gegen Kurdenmilizen in südostanatolischen Städten. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im selben Jahr erhielt die AKP wieder die absolute Mehrheit.
Der Präsident unter Druck
Es gibt noch eine weitere Parallele: Wie im Jahr 2015 steht Erdogan mächtig unter Druck - die Wirtschafts- und Flüchtlingskrise haben der Popularität der türkischen Regierung enorm geschadet. Bei den Kommunalwahlen wurde die AKP vom Wähler abgestraft. Dass der neue nationalistische Kurs auf Kosten der Kurden Erdogans politisches Überleben noch einmal sichert, ist zumindest weniger wahrscheinlich. Die Rahmenbedingungen haben sich verändert: CHP-Vertreter waren unter den Ersten, die die Absetzung der kurdischen Bürgermeister in Van, Mardin und Diyarbakir entschieden kritisierten. Die Hilfe der Kurdenpartei bei den Kommunalwahlen hat man ihnen nicht vergessen.