Angst vor Engpässen bei Medikamenten
17. November 2020"Arzneimittel sind keine einfachen Waren des täglichen Bedarfs, sondern lebensrettende und lebenserhaltende, besondere Güter der Daseinsvorsorge", mahnt Friedemann Schmidt, Präsident der Bundesvereinigung des deutschen Apothekerverbandes. Mit anderen Worten: Anders als Toilettenpapier sind Medikamente wirklich wichtig und sollten immer verfügbar sein.
Aber sind sie das auch? Nicht immer, sagt Ulrike Holzgrabe, die an der Universität Würzburg Pharmazie lehrt. "Lieferengpässe sind ein Thema, das jetzt schon seit Jahren gärt. Und es wird nicht besser, sondern immer schlimmer". Nun hat die Corona-Pandemie die Angst vor Lieferengpässen noch einmal kräftig geschürt. Das Problem ist nämlich, dass viele Wirkstoffe, Vorprodukte und Medikamente aus dem asiatischen Raum kommen. "China und Indien stellen 80 bis 90 Prozent aller Wirkstoffe für Medikamente her", so Holzgrabe gegenüber der DW.
Abhängigkeit von Ländern und einzelnen Standorten
Es gibt aber nicht nur eine große Abhängigkeit von Indien und China insgesamt, außerdem werden die Wirkstoffe häufig in einzelnen großen Fabriken hergestellt, anstatt in vielen kleinen Produktionsstätten, die regional verteilt sind. Das bestätigt auch Morris Hosseini von der Unternehmensberatung Roland Berger. "Insbesondere bei den Grundstoffen haben wir eine starke Verengung auf wenige Produktionsstätten, vornehmlich in China", erklärt er gegenüber der FAZ.
Das bedeutet, auch wenn viele verschiedene Firmen beispielsweise ein bestimmtes Antibiotikum verkaufen, die Vorstufen für dieses Medikament stammen unter Umständen alle aus derselben Fabrik. Fällt die aus, macht sich das auf dem Weltmarkt bemerkbar. So im Herbst 2016. Nach einer Explosion in einem Werk im chinesischen Jinan, wo das Antibiotikum Piperacillin hergestellt wird, kam es in vielen Ländern über Monate zu Lieferschwierigkeiten.
Aber es muss noch nicht einmal gleich etwas explodieren, auch die Änderung von Gesetzen kann schon Folgen haben. "Unsere Mitglieder haben uns vor zwei Jahren auf Probleme bei der Beschaffung aus China aufmerksam gemacht, weil ganze Industrieparks geschlossen wurden, nachdem die Regierung einen umfassenden Umweltplan umgesetzt hatte", sagt Maggie Saykali. Direktorin beim Verband der Europäischen chemischen Industrie (Cefic) gegenüber Chemistryworld.com.
Corona-Virus Pandemie verschärft das Problem
Die Sorge vor Engpässen, die also schon seit Jahren im Raum steht, wurde mit der Ausbreitung des Coronavirus noch verstärkt. In China breitete sich das Virus zu Beginn ausgerechnet in der chinesischen Region Hubai aus, wo sich ebenfalls viele Wirkstoff-Fabriken befinden. Und die wurden dann wochenlang stillgelegt.
Auch Indien sorgte in Europa für Sorgenfalten. Denn im Frühjahr beschloss die Regierung einen Exportstopp, etwa für Antibiotika, um die Versorgung der eigenen Bevölkerung zu sichern.
Bfarm: Bislang war Sorge unbegründet
Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) hält man die Medikamentenversorgung in Deutschland trotzdem für sicher, denn Lieferengpass heißt nicht Versorgungsengpass. Einen wirklichen Versorgungsengpass habe es nicht gegeben. Zwar seien im vergangenen Jahr 355 Meldungen von Lieferengpässen registriert worden, die müssten aber in Relation zu den ca. 103.000 in Deutschland zugelassenen Arzneimitteln gesehen werden. Das heißt, nur bei 0,3 Prozent der Medikamente ist es zum Engpass gekommen.
Vor allem aber bedeutet ein Lieferengpass noch lange nicht, dass ein Kranker hierzulande keine Hilfe bekommt. Denn häufig gibt es alternative Medikamente, die die gleiche Wirkung haben.
Auch Corona habe an der Versorgungssituation nicht viel geändert. "Aktuell liegen keine belastbaren Hinweise vor, die auf eine kurzfristige Einschränkung der Arzneimittelversorgung aufgrund von Produktionsausfällen in Regionen, die von der Ausbreitung des Coronavirus besonders betroffen sind, schließen lassen", heißt es auf der Internetseite des Bfarm. Aber: Es gebe Hinweise zu überdurchschnittlich hohem Abfluss an vermarkteten Arzneimitteln. Mit anderen Worten: So mancher Akteur hamstert und das kann - ebenso wie beim Klopapier - auch zu Lieferengpässen führen, obwohl im Prinzip genug da ist.
Ähnlich argumentierte kürzlich Stefan Oschmann, Geschäftsführer des Pharmaunternehmens Merck. "Die meisten Berichte über ernsthafte Störungen der Lieferketten in der pharmazeutischen Industrie sind reiner Mythos", so Oschmann auf der Asien-Pazifik-Konferenz der deutschen Wirtschaft Mitte Oktober.
Verschiedene Interessen der Akteure
Angst aber ist ein guter Treiber, um Dinge in Bewegung zu setzen. Was verschiedenen Akteuren zu Gute kommt.
Vor Engpässen warnen unter anderem die Apotheker*innen. Das jetzige System bedeutet für sie nämlich einen erheblichen Mehraufwand. Kommt es zu einem Lieferengpass "gibt es immer eine Möglichkeit, einen Patienten anders zu behandeln", sagt Holzgrabe. Das müsse aber irgendwer organisieren - nämlich die Apotheker*innen. "Im Schnitt verbringt ein Apotheker einen ganzen Tag pro Woche damit, Alternativprodukte zu beschaffen und Rücksprache mit Arztpraxen zu halten, wenn das Original nicht lieferbar ist", erklärt Holzgrabe. Neun von zehn Apotheken betonen, dass Lieferengpässe ihr größtes Ärgernis seien, so Friedemann Schmidt von der Bundesvereinigung des deutschen Apothekerverbandes.
Auch die Generika-Unternehmen schlagen Alarm. Ihre Produkte decken einen Großteil der medizinischen Versorgung ab. In Deutschland machten sie 2018 knapp 80 Prozent aller verkauften Medikamente aus. Wolfgang Späth, Vorstandsvorsitzender von Pro Generika e.V. hatte auf einer Konferenz im Oktober verkündet: Zwar sei es in Deutschland auf dem Höhepunkt der ersten COVID-19-Welle nicht zu Versorgungsengpässen gekommen, "das aber war ein beispielloser Kraftakt vor allem der Generikaunternehmen. Wir dürfen das nicht als Blaupause nehmen und uns darauf verlassen, dass auch beim nächsten Mal alles gut geht," so Späth
Ihm als auch den Apotheker*innen dürfte es sehr willkommen gewesen sein, das Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier gleich zu Beginn der Corona-Krise gefordert hatte, bestimmte Produkte wie Medikamente sollten künftig wieder verstärkt in Europa oder noch besser, in Deutschland produziert werden.
Im Oktober legte Gesundheitsminister Jens Span noch einmal nach. Er wolle die europäische Produktion von Wirkstoffen und Arzneimitteln stärken, sagte er auf der Konferenz "Für ein gesundes Europa". Man müsse darüber nachdenken, "mit welchen Instrumenten wir die Produktion und Versorgung hier in Europa wieder anreizen können." Möglich seien beispielsweise Investitionszuschüsse und eine Änderung des Vergaberechtes.
Der wahre Preis der niedrigen Preise
Das Vergaberecht ist eines der selbstgemachten Gründe für die Abhängigkeit vom Ausland. Es gab mal eine Zeit, da galt Deutschland als die Apotheke der Welt. Inzwischen wird hier nur wenig produziert, weil es immer mehr um den Preis geht. Billig soll es sein. Hauptursache ist das Einkaufsverhalten im Gesundheitssystem, sagt auch Merck-Chef Oschmann. Seit mehr als zehn Jahren dürfen Krankenkassen sogenannte Rabattverträge mit den Herstellern schließen. Das bedeutet, die Krankenkassen schließen nur mit den günstigsten Herstellern einen Vertrag über einen bestimmten Zeitraum ab. Im Gegenzug zu dem Rabatt, den die Hersteller den Kassen einräumen, erhalten die Versicherten nur noch die Arzneimittel dieser Hersteller.
Dieser harte Wettbewerb führt zu Niedrigstpreisen. Die aber lassen sich in Deutschland, mit deutschen Löhnen und deutschen Standards meist nicht herstellen. Holzgrabe nennt ein Beispiel: In Europa dürften in Anlagen zur Antibiotika-Herstellung nur ein Antibiotikum produziert werden. Anders in China, wo in einer Anlage auch mal zehn verschiedene Antibiotika hergestellt werden. Dadurch könnten sich aber in einem Antibiotikum Reste eines anderen befinden, was nicht europäischen Sicherheitsstandards entspräche.
Auch wenn Umweltauflagen in Asien niedrig sind, senke das zwar ebenfalls den Preis des Medikaments, kommen aber Produktionsabfälle über das Abwasser in die Umwelt, könne das zu Resistenzen führen, die sich sehr schnell verbreiten können. Im Endeffekt bezahlen wir über Umwege also ebenfalls für die billige Produktion. Die Produktion zurückzuholen, würde also bedeuten, dass die Krankenkassen und im Endeffekt die Patienten bereit sein müssen, dafür auch zu bezahlen. Entsprechend das Fazit von Merck-Chef Oschmann: "Die Produktion zurückzuholen ist total unrealistisch."