Boeing: Bedeutet Ende des Streiks Chance für einen Neustart?
5. November 2024Es ist vorbei. Sieben Wochen hatten 33.000 Beschäftigte beim Flugzeugbauer Boeing gestreikt. Ihre Forderung: 40 Prozent mehr Lohn. Nun erklärten sie sich mit einem Plus von 38 Prozent einverstanden.
Der Tarifstreit hat den zweitgrößten Flugzeughersteller der Welt laut Reuters etwa eine Milliarde Dollar gekostet. Um die Nerven der Finanzbranche zu beruhigen und ein Downgrade durch die Rating-Agenturen zu vermeiden hat Boeing Ende Oktober verkündet neue Aktien auszugeben. Dadurch könnte bei starker Nachfrage etwa 24 Milliarden Dollar an frischem Kapital generiert werden.
Boeing kämpft mit dem Thema Verlust
Nicht nur der Streik trug in den letzten Wochen zur Krise bei Boeing bei. Schon länger kämpft der Konzern mit einem Prestigeverlust und dem Verlust des Vertrauens seiner Kunden. Dazu haben die beiden MAX-Abstürze in den Jahren 2018 und 2019 beigetragen, bei denen 346 Menschen ums Leben kamen. Im Januar 2024 lösten sich dann auf einem MAX-Flug eine deaktivierte Tür in rund 5000 Metern Höhe. Mit viel Glück starben dabei keine weiteren Menschen.
Außerdem kämpft der Konzern mit finanziellen Verlusten: Für das dritte Quartal 2024 wurde gerade das zweitschlechteste Vierteljahresresultat seit 2018 gemeldet, ein Defizit von über sechs Milliarden Dollar. Das sich auf über 7,7 Milliarden Dollar über die ersten neun Monate 2024 summiert.
Diese Verluste sind wiederum Grund für den vor einigen Wochen angekündigten Stellenabbau bei Boeing. Der könnte 17.000 Mitarbeitende treffen, fast ein Zehntel der aktuellen Belegschaft. Boeings Aktienwert ist seit Jahresbeginn um über 40 Prozent eingebrochen.
Es scheint wie ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt. "Boeing ist ein tragischer Fall. Fast alles was sie anfassen verwandelt sich in Gift", erklärte US-Milliardär und Flugzeugleasingpionier Steven Udvar-Hazy, 78, vergangene Woche gegenüber DW. Seine Firma Air Lease Corporation ist einer der größten Boeing-Kunden. Lufthansa-Chef Carsten Spohr sagte vor Journalisten: "Um ehrlich zu sein habe ich so etwas noch nie gesehen in unserer Branche", wie die Financial Times berichtete.
Boeing zieht andere Unternehmen mit nach unten
Das Problem ist nur: Für die Airlines gibt es keine Alternativen. Sie sind an Boeing gebunden, denn Airbus als einzig anderer relevanter Hersteller ist ebenfalls bis in die frühen 2030er Jahre ausgebucht und kämpft jetzt schon mit eigenen Lieferkettenproblemen.
Schlimmer noch, einige Zulieferer beliefern sowohl Airbus als auch Boeing und brauchen auch beide Riesen als Kunden. Jetzt da Boeing die Zulieferungen vorübergehend gestoppt hat wegen des Streiks kommt es zu Verwerfungen und Entlassungen bei den Partnern in der zweiten Reihe. Das könnte mittelfristig auch bei Airbus zu weiteren Verzögerungen führen.
In der ziemlich überschaubaren Welt der Luftfahrt gilt das noch mehr als in anderen, vielfältiger aufgestellten Industrien: Alles ist mit allem verknüpft.
Boeings Probleme schaden der Umwelt
Boeing verfügt über einen riesigen Auftragsbestand von über 6000 bestellten, aber noch nicht produzierten Flugzeugen, Airbus sitzt sogar auf einem Berg von über 8600 unerfüllten Bestellungen, bei beiden Herstellern sind die Auftragsbücher bis zum Anschlag gefüllt. Boeing ist dazu verdammt, seinen Laden in Ordnung zu bringen, und wohl jeder, auch bei Airbus, wünscht sich eine schnelle Rückkehr zum Normalzustand. Das ist auch wichtig für den Umweltschutz. Neue umweltfreundlichere Jets sollen alte, schmutzigere Flugzeuge ablösen, die jetzt aber länger im Dienst bleiben müssen.
Die einzig gute Nachricht bei alldem ist bisher, dass sich zum ersten Mal alle von Mitarbeitern über Analysten bis zu Wettbewerbern einig darüber sind, dass der Mann an der Spitze von Boeing auch das Zeug dazu hat, das Schicksal der Firma zum Besseren zu wenden. "Wenn er das nicht schafft, schafft das keiner", zitiert die Financial Times einen Branchenanalysten.
Neuer Boeing-Chef Kelly Ortberg lässt hoffen
Kelly Ortberg, 64, kam in August aus der vorgezogenen Rente um den Top-Job in Seattle zu übernehmen. Als eine seiner ersten und wichtigsten Handlungen wurde gedeutet, dass er verkündete dafür von Florida nach Seattle umzuziehen, um physisch in der Produktion Präsenz zu zeigen. Das war ein deutlicher Kontrast zu seinem Vorgänger Dave Calhoun, der nur von seinen Wohnsitzen an der Ostküste nach Washington State jettete, wenn es unvermeidlich war.
Am 11. Oktober hat Kelly Ortberg vor den Boeing-Mitarbeitern schonungslos die Situation beschreiben und seine Wege aus der Krise aufgezeigt: "Wir sind klar an einer Wegscheide. Das Vertrauen in unser Unternehmen ist erodiert. Wir sind von zu hohen Schulden belastet. Wir haben uns ernsthafte Pannen in unseren Leistungen quer durch das Unternehmen geleistet, die viele unserer Kunden enttäuscht haben", sagte Ortberg.
Um dann auszuführen, dass für Boeing auch viele Chancen bestehen: "Unser Auftragsvolumen beträgt fast eine halbe Billion Dollar. Unsere Kundenbasis will und braucht unseren Erfolg. Wir haben Mitarbeiter, die es danach dürstet, wieder die ikonische Firma zurückzubekommen die sie kennen, Standards für die Produkte zu setzen die wir liefern", so Ortberg. "Meine Mission ist daher ziemlich geradlinig. Dieses Riesenschiff in die richtige Richtung zu drehen und Boeing wieder in die Führungsposition zu bringen, die wir alle kennen und wollen."
Es muss wieder ein neues Flugzeug entwickelt werden!
Um das zu erreichen brauche es einen fundamentalen Wechsel in der Firmenkultur und eine Stabilisierung des Geschäfts, "wir müssen für Boeing eine neue Zukunft bauen." Und er beteuerte, dies seien nicht nur Lippenbekenntnisse, oder Ansagen, die dann auf Poster gedruckt, aber später weitgehend ignoriert werden wie seit 1997. Damals hatten Boeing und McDonnell Douglas fusioniert, damit begann sich der Fokus zu verschieben in Richtung des Shareholder Value als absoluter Priorität vor Ingenieur-Exzellenz, und genau das war die Wurzel der heutigen Übel.
Erst gegen Ende seiner Rede sprach Ortberg eines der entscheidenden Themen an, die er angehen muss, will Boeing in Zukunft wieder erfolgreich sein: "Boeing ist ein Flugzeugbauer, und zur richtigen Zeit in der Zukunft müssen wir ein neues Flugzeug entwickeln. Aber vorher müssen wir noch viel Arbeit erledigen", verkündete der CEO.
Weil man risikoscheu und auf Gewinnmaximierung bedacht war, vernachlässigte Boeing die Produktinnovation seit Jahrzehnten. Vor allem hat man nicht rechtzeitig einen Nachfolger für den Evergreen und Bestseller Boeing 737 konzipiert, der zuerst 1967 flog und heute als MAX immer noch verkauft wird. Jetzt ruhen alle Augen auf Kapitän Kelly.