Boeing: Neuer Chef bringt neue Hoffnung
8. August 2024Für einen typischen Rentner mit Wohnsitz Florida sieht Robert "Kelly" Ortberg, den jeder in der Branche nur Kelly nennt, ziemlich jung und energiegeladen aus.
So ist er auf dem Porträtfoto zu sehen, das Boeing am 31. Juli mit der Nachricht verschickte, dass er zum 8. August neuer Konzernchef der Boeing Company wird.
Der 64-jährige Ortberg war früher Chef des Zulieferers Rockwell Collins und eigentlich seit 2021 im Ruhestand. Sein Name war erst spät aufgetaucht im Rennen um die Nachfolge des bisherigen Boeing-CEOs Dave Calhoun, das sich schon länger hinzog, ohne dass ein klarer Favorit erkennbar wurde.
Calhoun wollte eigentlich bis zum Jahresende im Amt bleiben, war aber klar zur "lame duck" geworden, wie es die Amerikaner nennen - also nicht mehr in der Lage, wichtige Entscheidungen zu treffen.
Dazu gehört der dringend überfällige Start eines neuen Programms für ein kleineres Kurz- und Mittelstreckenflugzeug, um endlich die Boeing 737-Familie zu ersetzen, deren Erstbetreiber 1967 die Lufthansa war.
2018 und 2019 waren zwei Maschinen des Typs 737 MAX abgestürzt, hunderte Menschen kamen ums Leben. Und allein in diesem Jahr mussten zwei Maschinen dieses Typs notlanden.
Milliardenverluste
Die Nachricht von Kelly Ortbergs Ernennung kam am gleichen Tag, als Boeing wieder einmal sehr schlechte Nachrichten verbreiten musste: einen operativen Betriebsverlust in den Kerngeschäftsfeldern von 1,4 Milliarden US-Dollar im zweiten Quartal.
Das war viel schlimmer als erwartet und mehr als eine Verdreifachung des Verlusts des Vorjahresquartals. Seit 2019 hatte Boeing kein profitables Jahr mehr und seitdem Betriebsverluste von insgesamt 33,3 Milliarden US-Dollar angehäuft.
Bisher bemüht sich das Unternehmen noch vergeblich darum, die US-Luftfahrtbehörde FAA davon zu überzeugen, dass die grundlegenden Probleme bei Sicherheit und Qualitätskontrolle aller aktuellen Flugzeugprogramme behoben sind.
Sicherheitsmängel
Im Januar und im März waren bei Boeing-Maschinen im Flug Teile der Kabinenabdeckung herausgefallen, Menschen kamen zum Glück nicht zu Schaden.
Die FAA hat Boeing in der Produktion ihrer 737 MAX deswegen eine Obergrenze von 38 Flugzeugen im Monat auferlegt, während Boeing anstrebt, monatlich 50 zu produzieren, um die weiter große Nachfrage zu befriedigen.
Dass Boeing sich derzeit nach innen orientiert und zurückhaltend agiert, wurde erst Ende Juli auf der Farnborough Air Show außerhalb Londons überdeutlich, einem der wichtigsten Branchenereignisse.
Weder Boeing noch der europäische Konkurrent Airbus erhielten dort viele Bestellungen, zumal sie diese wegen anhaltender Engpässe bei Zulieferern ohnehin in den nächsten Jahren nicht hätten erfüllen können.
Boeing hatte seine Präsenz auf der Luftfahrtmesse zudem massiv eingeschränkt. Man wolle sich vorrangig um die Verbesserung von Sicherheit und Qualität kümmern, betonte das Unternehmen und schickte deswegen kein einziges Verkehrsflugzeug auf die Messe - das hatte es noch nie gegeben.
Auch Stephanie Pope, Chefin der Zivilflugzeugsparte, gab sich zurückhaltend und schmallippig bei ihrem einzigen Medienauftritt. Sie gehörte zu den Kandidatinnen für die Nachfolge Calhouns.
Allerdings gab es viele Stimmen auch aus dem Aufsichtsrat, die auf einen Experten von außen setzten, um Boeing aus der Krise zu führen.
Viel Lob für den Ortberg
Wenig überraschend priesen die Boeing-Aufseher ihre Entscheidung für Ortberg als neuen Chef.
"Kelly ist ein erfahrener Unternehmenslenker, der in der Luft- und Raumfahrtindustrie einen tiefen Respekt genießt und einen wohlverdienten Ruf hat, starke Teams zusammenzustellen und komplexe, ingenieurgetriebene Hersteller zu führen", sagte Boeing-Chairman Steven Mollenkopf laut Pressemitteilung. "Wir freuen uns darauf, mit ihm zu arbeiten, während er Boeing durch diese sensible Periode der langen Unternehmensgeschichte führt."
Auch von anderen Seiten gab es Lob für die Berufung von Ortberg. Er wird als erfahrener Branchenexperte beschrieben und als effizienter, aber auch beliebter Firmenlenker. "Man hätte keine bessere Wahl treffen können", sagte Analyst Richard Aboulafia dem Branchenportal Flightglobal.
Boeings Aktienkurs reagierte am Tag der Entscheidung sofort. Nach anfänglichem Einbruch wegen der schlechten Quartalsergebnisse stieg er nach der Bekanntgabe der Entscheidung für Ortberg sogleich um ein Prozent - wobei die Aktie immer noch 28 Prozent unter ihrem Wert zu Jahresbeginn liegt.
Boeings Niedergang
Den Fokus auf den Aktienkurs zu legen anstatt auf Sicherheit und Qualität - das war genau der Grund, warum Boeing heute in so großen Schwierigkeiten steckt.
Nach der Fusion mit McDonnell Douglas 1997 wurde die Strategie des kleineren Partners übernommen, dabei ging der Einfluss der Ingenieure merklich zurück, während Rekordprofite und Dividenden Aktionäre und Wall Street verzückten.
Jetzt aber ruhen sehr große Hoffnungen auf Kelly Ortberg, endlich den überfälligen Kurswechsel einzuleiten.
Ende des "Sturzflugs"?
Erste Anzeichen geben Arbeitern, Analysten und sogar Angehörigen von Opfern Anlass für Optimismus.
"Die Ankunft eines neuen CEO bei Boeing hätte zu keinem entscheidenderen und nötigeren Zeitpunkt für das weltweit reisende Publikum stattfinden können", zitierte der US-Sender CNN Robert Clifford, der als Anwalt die Familien der Opfer vertritt, die bei den beiden Abstürzen von Maschinen des Typs Boeing 737 MAX ums Leben kamen.
Clifford sagte, Boeing habe sich unter den früheren Chefs Dennis Muilenburg und Dave Calhoun sowie einem "untätigen" Aufsichtsrat in einem "Sturzflug" befunden. Aber mit Ortberg gebe es jetzt Hoffnung.
"Obwohl dieser Mann ein Brancheninsider ist, kommt er von außerhalb Boeings und hat einen guten Ruf in der Branche. Vielleicht kann er die Firma zurückbringen zu der Statur, die sie mal hatte, bevor sie auf kriminelle und vermeidbare Weise 346 Menschen getötet hat", so Clifford.
Altersregel ausgesetzt
Um Ortberg überhaupt die Möglichkeit zu geben, Boeing auf Kurs zu bringen, hat der Aufsichtsrat extra eine im Unternehmen geltende Regel ausgesetzt, nach der Manager mit spätestens 65 Jahren aus dem Amt ausscheiden müssen.
US-Medien berichteten, dass Ortberg bereits eine weitreichende Entscheidung von großer psychologischer Bedeutung getroffen hat: Er wird seinen Dienstsitz in Seattle haben.
Das wurde so interpretiert, dass er in der Folge auch die umstrittene Entscheidung von 2001 rückgängig machen könnte, Boeings Hauptsitz weg vom Entwicklungs- und Produktionszentrum in Seattle zunächst nach Chicago und später nach Virginia zu verlegen.
Die Entscheidung für Seatlle wäre nicht nur für die Arbeiter in den Fertigungshallen ein großer Vertrauensbeweis, sie könnte sogar helfen, einen anstehenden Streik in der Produktion abzuwenden.
"Eine der Forderungen der Gewerkschaft ist, dass sich Boeings Führung verpflichtet, das nächste Flugzeug hier zu bauen und nicht mehr damit droht, weitere Arbeiten abzuziehen", sagte der Luftfahrt-Reporter der Seattle Times, Dominic Gates, einem lokalen Radiosender. "Ich vermute, er wird Ihnen geben, was sie verlangen. Wenn er das tut, könnten wir einen Streik vermeiden."
Für die Ära Ortberg wäre das schon mal ein guter Anfang.