Berg-Karabach: Ende des Konflikts in Sicht?
24. Mai 2023Sie könnte ein Meilenstein gewesen sein, die Pressekonferenz von Nikol Paschinjan am 22. Mai in Jerewan. Der armenische Regierungschef erklärte, er sei bereit, über die Anerkennung der seit Jahrzehnten umkämpften Region Berg-Karabach als Teil Aserbaidschans zu sprechen, sollte Baku die Rechte der Armenier in diesem Gebiet garantieren.
Und der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew schloss während eines Besuchs in Litauens Hauptstadt Vilnius einen Friedensvertrag zwischen den beiden Ländern nicht aus. "Wir hoffen, dass Verhandlungen letztendlich dem Kaukasus dauerhaften Frieden bringen werden", sagte er. Am 25. Mai sollen in Moskau Gespräche zwischen der armenischen und aserbaidschanischen Führung stattfinden.
Baku und Jerewan: Durchbruch im bilateralen Verhältnis?
Seit jener Pressekonferenz des armenischen Premierministers scheint ein Ende des Konflikts zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach realistischer. Der Konflikt schwelt schon seit Jahrzehnten: In den 1990er Jahren konnte sich die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region in einem blutigen Bürgerkrieg von Aserbaidschan lösen. 2020 holte Baku nach neuen Kämpfen über ein Waffenstillstandsabkommen die Kontrolle über einen Teil des Gebiets zurück. Eine russische Friedenstruppe soll die Einhaltung des Abkommens überwachen - doch der Waffenstillstand ist brüchig.
Der armenische Regierungschef Paschinjan legte nun besonderen Wert auf die Bedingungen für Verhandlungen zwischen Jerewan und Baku. "86.600 Quadratkilometer des Territoriums Aserbaidschans umfassen auch Berg-Karabach. Wenn wir einander richtig verstehen, dann erkennt Armenien die territoriale Integrität Aserbaidschans innerhalb der genannten Grenzen an, und Baku erkennt die territoriale Integrität Armeniens auf 29.800 Quadratkilometern an", präzisierte er.
Der Leiter des armenischen "Forschungszentrums für Sicherheitspolitik", der Politologe Areg Kotschinjan, bezeichnet Paschinjans Aussage als "Durchbruch" und "beispielloses Zugeständnis". "Zum ersten Mal haben die Länder die territoriale Integrität des anderen klar anerkannt. Aber es muss berücksichtigt werden, dass Armenien dies unter der Bedingung tut, dass es einen Mechanismus geben muss, der die Rechte und die Sicherheit der armenischen Bevölkerung in Berg-Karabach garantiert", so Kotschinjan.
Vor dem Hintergrund der Blockade des Latschin-Korridors durch aserbaidschanische Aktivisten wies Ministerpräsident Paschinjan auf einen wichtigen Punkt eines möglichen künftigen Friedensvertrages hin: "Jerewan erklärt, dass die Fragen der Rechte und Sicherheit der Armenier von Berg-Karabach in einem Verhandlungsformat Baku-Stepanakert behandelt werden sollten." Der Latschin-Korridor führt durch eine Gebirgsregion innerhalb von Aserbaidschan. Durch ihn hindurch führt eine Straße von Armenien nach Berg-Karabach und dessen Hauptstadt Stepanakert. Der Korridor ist daher von hoher strategischer Bedeutung für die Region.
Wie reagiert Aserbaidschan?
In Aserbaidschan wurden Paschinjans Äußerungen zurückhaltend, fast gleichgültig aufgefasst. Obwohl die Medien darüber berichteten, blieben Reaktionen von Experten oder der Öffentlichkeit aus. Grund dafür sei, so der aserbaidschanische Politikexperte Schahin Rsajew, der an Friedensprojekten für Berg-Karabach beteiligt ist, dass Paschinjan nichts Neues gesagt habe. "Was die Bedingungen für die Wahrung der Rechte und Freiheiten der Armenier in Berg-Karabach angeht, hat Präsident Ilham Alijew wiederholt erklärt, dass dies eine interne Sache Aserbaidschans sei und Baku diese Garantien nur mit den Armeniern in Berg-Karabach selbst ohne Beteiligung Dritter besprechen werde", so Rsajew.
Eine ähnliche Position vertritt Ilgar Welisade, Leiter des aserbaidschanischen Politikwissenschaftler-Klubs "Südkaukasus". Er meint, Paschinjan habe Berg-Karabach faktisch als Teil Aserbaidschans anerkannt. Daher sei es nicht angemessen, noch irgendwelche Bedingungen zu stellen. "Wenn Armenien die territoriale Integrität Aserbaidschans anerkennt, dann heißt dies, dass man sich nicht in die inneren Angelegenheiten des jeweils anderen einmischt", betont Welisade. Er findet die Haltung Jerewans widersprüchlich. Sie sei das Haupthindernis auf dem Weg zu Verhandlungen.
Rückzug aus Bündnis mit Russland?
Nikol Paschinjan machte bei seiner Pressekonferenz noch eine wichtige Aussage über die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). "Ich kann nicht ausschließen, dass Armenien de jure aus der OVKS austritt oder seine Mitgliedschaft einfriert. Das wird passieren, wenn wir sehen, dass sich die OVKS aus Armenien zurückzieht", so Paschinjan. Jerewan bemängelt, dass das von Russland angeführte Militärbündnis in keiner Weise auf die Blockade des Latschin-Korridors reagiert, die seit Dezember letzten Jahres andauert. Seitdem mehren sich in Armenien die Stimmen, das Land solle die OVKS verlassen.
Der Politologe Areg Kotschinjan weist darauf hin, dass Paschinjan sich erstmals in diese Richtung geäußert habe. "Wenn die OVKS ihre Politik der Nichteinmischung fortsetzt und keine politische Bewertung der Aggression Aserbaidschans auf dem Territorium Armeniens abgibt, dann ist nicht auszuschließen, dass sich Armenien aus der OVKS zurückzieht. Das ist jetzt noch nicht der Fall, aber ein wichtiger Punkt in der Diskussion", so Kotschinjan.
Chance für dauerhaften Frieden?
"Paschinjans Äußerungen stehen im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen Baku und Jerewan. Er möchte die Anerkennung der territorialen Integrität Armeniens durch Aserbaidschan erreichen und einen Sonderstatus für die Armenier in Berg-Karabach sichern, was bisher nicht gelungen ist", meint Olesja Wartanjan, Südkaukasus-Expertin der in Brüssel ansässigen auf Konflikte spezialisierten NGO "International Crisis Group".
Beobachter glauben, sollten Paschinjans Äußerungen schließlich zum Abschluss eines Friedensvertrages zwischen Armenien und Aserbaidschan führen, könnte dies der Region echten Frieden bringen.
Doch Politologe Kotschinjan warnt, von einem baldigen Ende des Konflikts im Südkaukasus könne noch keine Rede sein. Premier Paschinjan habe deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er nicht glaube, dass es bei den Gesprächen in Moskau zu einem Durchbruch oder zu einer Unterzeichnung kommen werde. "Soweit ich weiß, ist etwa die Hälfte der Punkte des vorgeschlagenen Friedensvertrags geklärt, aber das ist nicht der schwierigste Teil. Alle wichtigen Fragen sind bisher ungelöst. Es gibt ganz klar Fortschritte, aber wir sind noch ziemlich weit von einem endgültigen umfassenden Vertragstext entfernt", so der Experte.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk