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Gesellschaft

Einmal vor der Tür, immer vor der Tür

14. November 2017

Angela Merkel nennt Deutschland ein Land, in dem wir "gut und gerne" leben. Zahlen zur Wohnungslosigkeit zeichnen ein anderes Bild: Ganze 860.000 Menschen waren 2016 wohnungslos. Ines Eisele hat mit einigen gesprochen.

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Flaschensammler in Berlin
Bild: picture-alliance/dpa/W. Steinberg

Zehn Uhr morgens im Haus Sebastian, einer Notunterkunft für alleinstehende Wohnungslose. Einige Bewohner stehen am Eingang in der Kälte und rauchen, andere kommen gerade die Treppe herunter, um sich in der Gemeinschaftsküche Frühstück zu machen. Nelly Grunwald ist Geschäftsführerin des Vereins für Gefährdetenhilfe (VfG), der das Haus Sebastian und weitere Einrichtungen in Bonn betreibt. Ihr zufolge sind die Unterkünfte "so voll wie nie zuvor". Gerade in den Wintermonaten kämen seit einigen Jahren immer mehr Menschen, die kein Dach mehr über dem Kopf hätten.  

Immer mehr Wohnungslose - das ist nicht nur in Bonn so, sondern in ganz Deutschland. Soeben hat die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslose (BAGW) ihre aktuelle Schätzung vorgelegt. Demnach waren im vergangenen Jahr 420.000 Menschen ohne eigene Wohnung, fast ein Drittel mehr als noch 2014. Dazu kommen gut doppelt so viele wohnungslose Flüchtlinge, die anerkannt sind und eine eigene Wohnung beziehen könnten. Wenn sie denn eine finden würden. Denn einer der Hauptgründe für die explodierende Wohnungslosigkeit ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum.

Nun landen die wohnungslosen Flüchtlinge nicht automatisch auf der Straße, die meisten leben wohl einfach weiterhin als sogenannte Fehlbeleger in den Flüchtlingsunterkünften. Auch von den 420.000 anderen wohnungslosen Menschen in Deutschland lebt nur ein Bruchteil als Obdachlose, also ohne jede Unterkunft auf der Straße. Die stellvertetende BAGW-Geschäftsführerin, Werena Rosenke, erklärt: "Wir gehen aktuell von circa 52.000 Menschen aus. Der größere Teil der Wohnungslosen kommt irgendwo unter, also zum Beispiel bei Freunden und Familie, einige mieten sich auch etwa in Billighotels ein. Viele sind in Unterkünften von städtischen oder freien Trägern untergebracht, in Obdachlosensiedlungen, betreutem Wohnen." 

Infografik: Schätzung der Wohnungslosigkeit (DW Grafik)

In Einrichtungen wie dem Haus Sebastian zum Beispiel, wo Wohnungslose ein Bett bekommen und sich dafür einmal am Tag an der Pforte melden müssen. Gwendolin Eckers ist vor einem Monat dort angekommen. Ihr Fall zeigt, wie sich mehrere unglückliche Umstände zu einem Desaster verketten können. "Wir hatten Stress mit dem Vermieter, weil mein Lebensgefährte zwischendurch aus der Wohnung ausgezogen war, obwohl er der Hauptmieter war", so die 36-Jährige. Dann habe ihr Partner einen schweren Unfall gehabt, in dessen Folge er sechs Monate im Krankenhaus verbrachte. Und dann kam eine Räumungsklage.

"In Wirklichkeit glaube ich, der Vermieter wollte uns schon lange da raushaben, damit er die Wohnung teurer weitervermieten kann", erzählt Eckers, die wegen Depressionen nicht mehr arbeitet. "Das hat er mir sogar hinter vorgehaltener Hand so gesagt." Nach der Räumung verbrachte das Paar ein paar orientierungslose Tage im Hotel. Dann ging Eckers zur Stadt Bonn, wo sie für sich und ihren Lebensgefährten eine Einweisung für das Haus Sebastian erhielt.

Persönliche Gründe erklären nicht den rasanten Anstieg

Die meisten Menschen verlieren ihre Wohnung aufgrund von finanziellen Problemen. Dahinter steht manchmal ein Schicksalsschlag wie eine Krankheit oder ein Arbeitsplatzverlust, der die Betroffenen aus der Bahn wirft. Manchmal können auch profan erscheinende Geschehnisse wie ein Auszug wegen Trennung oder ein Wohnortwechsel dazu führen, dass Leute ihren festen Wohnsitz verlieren. Bei der Mehrheit spielen zudem schwierige soziale Verhältnisse, psychische und vor allem Suchtprobleme eine Rolle. Im Haus Sebastian, so die dortige Sozialarbeiterin Imke Freischem, hätten mindestens 70 Prozent Suchterfahrungen.

Frank Leven ist einer von ihnen. Nach jahrelangem Medikamentenmissbrauch trennte sich seine Frau schließlich von ihm, setzte ihn "mitten in der Nacht vor die Tür". Darauf folgten Arbeitslosigkeit, andere Drogen, am Ende das Leben auf der Straße. Heute fühlt sich der 53-Jährige von allen verlassen und verraten, auch die Mitarbeiter der Stadt und sein Arzt, der ihm Substituierungsmittel gibt, würden ihm das Leben schwer machen, so Leven mit glasigen Augen. Aber im nächsten Moment gibt er zu: "Ich weiß, dass ich ein schwieriger Mensch bin, ich habe viel verbockt. Ich könnte heulen, wenn ich darüber nachdenke."

Zimmer im Haus Sebastian, Bonn
Zimmer im Bonner Haus SebastianBild: DW/I. Eisele

Doch wie die persönliche Situation der Betroffenen auch jeweils aussehen mag, der wesentliche Grund für immer mehr Wohnungslose ist Wohnungsmangel in Verbindung mit sozialer Ungleichheit: "Dass es Deutschland insgesamt wirtschaftlich so gut wie lange nicht mehr geht, bringt den unteren Einkommensschichten leider gar nichts", erklärt Werena Rosenke, "die Spaltung zwischen Arm und Reich schreitet weiter voran."

Dazu gesellt sich ein hart umkämpfter Wohnungsmarkt, der Geringverdiener und Sozialhilfeempfänger sozusagen doppelt bestraft - von Leuten, die bereits wohnungslos sind, ganz zu schweigen. "Es ist zurzeit nahezu unmöglich, Wohnungslose wieder in Wohnraum zu vermitteln, und das nicht nur in Ballungsräumen, sondern weit darüber hinaus", so Rosenke. Und so kommen die explodierenden Zahlen im Bereich der Wohnungslosigkeit nicht nur dadurch zustande, dass immer mehr Menschen wohnungslos werden. Sondern dadurch, dass sie wohnungslos bleiben.

"Die Politik hat lange geschlafen"

Rosenke fordert deshalb ein stärkeres Eingreifen von Bund und Ländern: "Es kann zum einen mehr in Sachen Prävention von Wohnungsverlusten getan werden. Und es müssen natürlich deutlich mehr Mittel in die soziale Wohnraumförderung gehen. Zudem muss die Sozialbindung dieser Wohnungen dauerhaft sein." Dass viele Sozialwohnungen nach zehn oder 15 Jahren aus der Mietpreisbindung herausfielen, sei eine sinnlose Verschwendung von Steuergeldern und habe zum heutigen Mangel beigetragen.

Auch Nelly Grunwald findet: "Genug Wohnraum für untere Einkommensschichten zu schaffen wurde lange Zeit von der Politik verschlafen." Mittlerweile habe beispielsweise die Stadt Bonn zwar das Problem erkannt, doch bis tatsächlich bezugsfertige neue Wohnungen da seien, könne es noch Jahre dauern. Jahre, in denen Wohnungslose festsitzen.

Auch Gwendolin Eckers weiß, dass es schlecht für sie aussieht, wenn sie sich als Arbeitsunfähige und Wohnungslose aus der Notunterkunft bewirbt. Trotzdem sucht sie jeden Tag im Internet nach etwas Geeignetem für sich und ihren Partner: "Ich hoffe einfach, dass uns irgendein Vermieter eine Chance gibt und wir zum Ende des Jahres hier raus sind. Das wäre das schönste Weihnachtsgeschenk."

DW Fact Checking-Team | Ines Eisele
Ines Eisele Faktencheckerin, Redakteurin und AutorinInesEis