Bezahlbarer Wohnraum
21. Juli 2017Für unsere Sommerreise hatten wir ein klares Ziel: sechs Wochen, sechs verschiedene Orte, sechs Themen, die im Jahr der Bundestagswahl die Debatte bestimmen. Das Thema der letzten Woche hatten wir bewusst bis zur Abreise offen gelassen. Ein Thema begegnete uns auf der Reise dann überall: bezahlbarer Wohnraum.
Ob Dresden, Zwickau, München oder Bremen - überall erzählten die Menschen uns von den stark steigenden Lebenshaltungskosten in den städtischen Gebieten. Deutschland ist eine Nation von Mietern, nicht von Eigentümern: Laut der EU-Statistik-Behörde Eurostat von 2015 mieten 47,5 Prozent der Deutschen die Wohnung oder das Haus, in dem sie leben (EU-weit um die 30 Prozent). Das bedeutet: Wenn die Mieten in Deutschland steigen, sind von diesem Trend fast die Hälfte der Deutschen betroffen.
"Kauft in Deutschland"
Menschen ziehen in die Städte. Die ländlichen Gegenden verwaisen. Auch für andere Europäer ist Deutschland attraktiv zum Leben geworden, sagt Claus Michelsen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Alleine die 3,5-Millionen-Metropole Berlin hat in den letzten fünf Jahren einen Zuzug von 220.000 Menschen erlebt. "Deshalb steigen hier die Mieten sehr stark, aber auch die Immobilienpreise," sagt Claus Michelsen. "Die Miete ist ja ein Knappheitsindikator. Es gibt schlicht und ergreifend zu wenig Wohnraum."
Auch das gilt im besonderen für Berlin: Der Leerstand in der Stadt liegt bei gerade mal 1,5 Prozent. In anderen Worten: Berlin platzt aus allen Nähten. Überall sprießen Neubauten aus dem Boden. Baukräne bestimmen das Stadtbild. Viele Bauträger bauen Eigentumswohnungen, nicht Mietwohnungen. Oft handelt es sich um Luxusappartments. Michelsen sagt, die Preise explodieren im Neubau.
70 Prozent mehr als 2004
2016 war nach Angaben von JLL deutschlandweit das Jahr mit dem stärksten Mietpreisanstieg, seit der Immobiliendienstleister im Jahr 2004 mit seiner Marktbeobachtung in acht Städten begann. Berlin ist dabei Spitzenreiter: Im Vergleich zu 2004 sind die Mieten in Berlin nach Angaben von JLL um 69 Prozent gestiegen. Das Einkommen der Berliner ist es im gleichen Zeitraum nicht. Mehr als die Hälfte der Berliner gilt als sozial schwach. Diese Definition greift bei einem Jahreseinkommen von weniger als 16.800 € (Einpersonenhaushalt) bzw 25.200 € (Zweipersonenhaushalt).
Auch im Zentrum der Stadt wird preiswerter Wohnraum jetzt knapp. Das gilt auch für Berlin-Kreuzberg. Ein sonniger Nachmittag an der Admiralsbrücke: Schlangen vor der Eisdiele, junge Familien schieben ihre Fahrräder über das Kopfsteinpflaster. Ganz gleich, wen wir hier ansprechen, die Geschichten ähneln sich: Man werde sich die hohen Mieten bald nicht mehr leisten können und müsse bald in einen anderen Bezirk ziehen. Oder man dränge sich jetzt als vierköpfige Familie in einer Singlewohnung, weil man den Kiez nicht verlassen wolle.
Gewerbe bedroht
Die Auswirkungen der Globalisierung würden hier im Bezirk jetzt sichtbar, erzählen uns die Kreuzberger. Die Stadt werde internationaler, das sei zu begrüßen. Aber: Internationale Labels, die ihre Geschäfte öffnen, verdrängen immer häufiger alteingesessenes Gewerbe. Auf der Oranienstraße sind gleich mehrere Geschäfte betroffen. Seit sechzig Jahren sei die Änderungsschneiderei immer in diesem Laden gewesen, sagt uns die Inhaberin. Aber jetzt könne sie sich die Miete bald nicht mehr leisten. Auch für den Spätkauf nebenan werde es eng.
Genau wie für den Buchladen Kisch & co. – seit 1997 auf der Oranienstraße. Vor einigen Jahren erstand der Milliardär Nicolas Berggruen das Gebäude. Dann plötzlich dieses Jahr die Kündigung. Der Nachmieter war schon bereit, einzuziehen, berichtet uns Mitinhaber Thorsten Willenbrock. Aber schließlich verhandelte man doch noch einmal. Willenbrock hat eine Vermutung, warum: "Weil es hier einen unglaublich breiten, von vielen Menschen getragenen Protest gegeben hat." Jetzt hat Kisch & co. eine Atempause von drei Jahren – der Vertrag wurde noch einmal verlängert. Der Protest wurde organisiert von Initiativen wie "Bizim Kiez" und "Zwangsräumung verhindern". In Kreuzberg sind in den letzten Jahren viele solcher Initiativen entstanden.
Zeit zu handeln
Aus Angst vor möglicher Verdrängung aus dem Kiez entstand auch die Möckernkiez-Genossenschaft. Sie erwarb ein Grundstück am Gleisdreieck-Park. Dort entstehen jetzt knapp 500 Wohnungen, wo die Miete die nächsten Jahre 13€ nicht überschreiten wird.
Auch die neue rot-rot-grüne Regierung in Berlin versucht, möglichst die bestehende Mischung von Stadtbewohnern zu behalten und preiswerten Wohnraum zu erhalten und zu erschaffen: Der Senat weist Stadtbezirke als Milieuschutzgebiete aus, macht bei zu verkaufenden Gebäuden von seinem Vorkaufsrecht Gebrauch, plant Nachverdichtungen in schon bebauten Gebieten und lässt die landeseigenen Firmen Sozialwohnungen bauen. Man sei aber sehr spät aktiv geworden, räumt Sebastian Scheel, Staatssekretär für Wohnen beim Berliner Senat, ein.
"Die Politik hat das hier lange oder zu lange laufen lassen. Es brauchte den Druck auch aus der Stadtgesellschaft, um hier das Umdenken zu provozieren. Aber das Umdenken ist jetzt da. Insofern werden wir mit aller Kraft auch in den nächsten Jahren daran arbeiten, die Probleme auch mit der Stadtgesellschaft zu bewältigen.