100 Tage bis zum Brexit
19. Dezember 2018Erst Mitte Januar darf das Parlament über den Brexit-Deal mit der EU abstimmen. Zu spät, um noch nach anderen Lösungen zu suchen.
Die Premierministerin:
Theresa May beschwört inzwischen die Abgeordneten, aus Verantwortungsgefühl für ihren Brexit-Deal zu stimmen. Dabei blockiert sie selbst jede einigungsfähige Lösung, insbesondere ein zweites Referendum. Ihr Brexit sei der, für den die Briten 2016 gestimmt hätten, behauptet die Premierministerin. Dafür gibt es keinen Beweis, aber May ermüdet ihre Gegner durch endlose Wiederholung. Das Drama ist ein Kampf um den Machterhalt und die Rettung der konservativen Partei.
May setzt jetzt auf Druck durch Zeitablauf: Sie zog die Abstimmung vorige Woche zurück und verlegte sie auf Mitte Januar. Mit Verzehr des Weihnachtstruthahns würde bei den Parlamentariern beider Lager der Angstpegel steigen, so ihre Rechnung. Nach den Feiertagen dann wären sie bereit, aus reiner Verzweiflung Mays Brexit-Deal doch zuzustimmen. Das ist möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich.
Regierung und Partei:
Theresa Mays Kabinett ist in drei Lager gespalten, ähnlich wie die Tory-Partei. Es gibt harte Brexiteers, Pragmatiker und verhaltene Pro-Europäer. Alle senden verschiedene Botschaften: Die Hardliner kämpfen inzwischen für einen EU-Ausstieg ohne Vertrag und ohne Übergangsphase. Die Pragmatiker versuchen Mays Deal mit der EU zu unterstützen und die heimlichen Brexit-Gegner setzen auf ein zweites Referendum als einzigen Weg aus der Sackgasse.
Der "schwarze Block" in der konservativen Partei aber gibt nicht auf: Die harten Brexiteers haben Theresa May vor einer Woche mit 117 Gegenstimmen beim internen Misstrauensvotum eine blutige Nase verpasst. Sie blockieren weiter die Zustimmung zu dem Deal mit Brüssel. Inzwischen verkaufen sie einen harten Brexit als bevorzugte Lösung.
Die Labour Party:
Angesichts der gelähmten Regierung liegt der Schlüssel für eine Lösung bei der Opposition. Aber Labour unter Jeremy Corbyn ist nicht willens, das Gemeinwohl über machtstrategische Erwägungen zu stellen. Statt eine Mehrheit für ein zweites Referendum zu suchen, verstrickt er sich in parlamentarische Spielchen, die ihn zum Gespött machen und die Pro-Europäer in seiner Partei zur Verzweiflung treiben.
Sein Ziel ist weiter, Neuwahlen zu erzwingen. Aber dagegen schließen sich die Reihen von Tories und DUP. Außerdem würde Corbyn nach den Umfragen eine Wahl nicht einmal gewinnen: Viele Briten finden ihn noch abschreckender als die handlungsunfähige konservative Regierung.
Die Sackgasse:
Der Brexit hat die politische Klasse des Landes in einen Bürgerkrieg verstrickt, der tiefe Gräben aufgerissen, Feindschaft gestiftet hat und Zusammenarbeit unmöglich macht. Vom britischen "Common Sense" ist nichts mehr zu spüren. Es regieren Idelogie und Lagerdenken.
Theresa Mays und Jeremy Corbyns herausragende Eigenschaft scheint die Sturheit. Es fehlt beiden Flexibilität und der Wille zu strategischem Denken. Sie stehen einer überparteilichen Lösung im Wege, die mit den gemäßigten Abgeordneten beider großer Parteien gefunden werden könnte. Sie beschwören das Wohlergehen der Briten, aber tun nichts dafür.
Die Uhr läuft:
100 Tage vor dem Brexit-Datum hat die Regierung jetzt die Vorbereitungen für einen harten Ausstieg hochgefahren. Weitere zwei Milliarden Pfund werden für zusätzliche Zollbeamte, IT-Systeme für die Registrierung von Exportgütern, Lastwagenparkplätze und den möglichen Einsatz des Militärs bereit gestellt.
Außerdem werden jetzt die Bürger und die britische Exportindustrie alarmiert. Sie solle sich auf einen möglichen harten Brexit vorbereiten. Viele Großunternehmen haben das bereits getan: Zulieferteile und Rohstoffe wurden eingelagert, auch wenn das nur kurzfristig weiter hilft. Im ganzen Land gibt es derzeit keine Lagerhalle mehr. Aber es geht um mehr: Pharma- und Luftfahrtunternehmen etwa müssen neue Lizenzen beantragen, Transportunternehmen neue Registrierungen – die Liste der Probleme ist endlos.
Kleine und mittlere Unternehmen stehen der Bedrohung durch einen harten Brexitweitgehend hilflos gegenüber: Viele von ihnen haben weder das Geld noch die Expertise, sich darauf vorzubereiten. Ihr Lobbyverband schätzt, dass dies für 4/5 seiner Mitglieder gilt.
Von Einhörnern und Schimären:
Obwohl die Lügen und falschen Versprechen beim Brexit längst bloß gestellt sind, beschwören die Akteure in diesem Drama weiter die Existenz von Einhörnern. Die harten Brexiteers haben den sogenannten WTO-Brexit erfunden, der nach den angeblich großartigen Regeln der Welthandelsorganisation funktionieren soll. Der frühere WTO-Chef Pascal Lamy erklärte dazu, es sei wie von der Premier League in die vierte Liga abzusteigen.
Neuerdings kommt auch der "managed no-deal" vor, bei dem die EU angeblich gegen Geld den Brexit durch eine Reihe von Einzelabkommen abfedern würde. Der Brexit-Koordinator des Europaparlaments hat kategorisch verneint, dass es dieses Traumgespinst gibt.
Theresa May behauptet weiter, die EU werde ihr im Januar noch rechtlich bindende Zusicherungen für den verhassten irischen Backstop machen. Und Labour-Chef Jeremy Corbyn erklärt, er könne als Regierungschef innerhalb von Wochen einen neuen Brexit aushandeln, der gut für britische Arbeitsplätze sei. Entweder lügen sich hier alle in die Tasche oder den Bürgern ins Gesicht. ´
Schlafwandeln in den harten Brexit:
100 Tage vor dem Ausstiegsdatum schient in London weiter der Sinn für Dringlichkeit zu fehlen. Theresa May spielt auf Zeit, die Opposition versagt und Kompromisse werden als Verrat an der jeweiligen Ideologie gebrandmarkt. Geht es so weiter, könnte Großbritannien wegen der Engstirnigkeit seiner politischen Klasse am 29. März 2019 in einen harten Brext schlafwandeln.