Tabubruch mit Kalkül
8. März 2014Sybille Lewitscharoff hat sich entschuldigt. Öffentlich, im Fernsehen. Ihre Äußerungen täten ihr leid, sie seien zu scharf ausgefallen. "Ich möchte ihn (den Satz, Anm. d. Red.) sehr gerne zurücknehmen. Ich bitte darum." Die vielfach preisgekrönte Schriftstellerin möchte also die Formulierungen zurücknehmen, nicht aber den Sinn. So könnte man ihre Äußerungen verstehen. In ihrem Vortrag am Sonntag (2.3.2014) im Staatsschauspiel Dresden ließ Sybille Lewitscharoff Deutlichkeit jedenfalls nicht vermissen.
Ein vorsätzlicher Tabubruch
Die Autorin sprach über das Spannungsverhältnis von medizinisch Machbarem und Menschlichem, über Sterben und Sterbehilfe, Patientenverfügungen und Abtreibung. Thesen, die man mitgehen - oder an denen man sich reiben kann. Nach gut dreißig Minuten kommt Sybille Lewitscharoff zur Sache: nämlich zu einem Rundumschlag gegen die Reproduktionsmedizin. Die Ärzte nennt sie "Frau Doktor und Herr Doktor Frankenstein", angekleidet mit "sauberem Arztkittelchen". Sie brandmarkt lesbische Frauen, "die sich ein Kind besorgen". Die "Widerwärtigkeit auf die Spitze" treibe die Praxis von Leihmüttern. Als Zeugen der Anklage zieht sie den Philosophen Peter Sloterdijk heran, der darüber "klug und anschaulich geschrieben habe". Und dann kommt ein Nazi-Vergleich, der auch dadurch nicht besser wird, dass sie ihn mit der Floskel "mit Verlaub" einleitet:
"Mit Verlaub, angesichts dieser Entwicklungen kommen mir die Kopulationsheime, welche die Nationalsozialisten einst eingerichtet haben, um blonde Frauen mit dem Samen von blonden, blauäugigen SS-Männern zu versorgen, fast wie harmlose Übungsspiele vor."
Und es kommt noch schlimmer:
"Ich übertreibe, das ist klar, übertreibe, weil mir das gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse derart widerwärtig erscheint, dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas. Das ist gewiss ungerecht, weil es den Kindern etwas anlastet, wofür sie rein gar nichts können. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft."
Der Skandal war da
Robert Koall war dabei, als Sybille Lewitscharoff ihre kruden Thesen zum Besten gab. Der Chefdramaturg des Staatsschauspiels Dresden hat womöglich bitter bereut, sie eingeladen zu haben. Koall schrieb einen Offenen Brief an die Autorin: "Ich fühle mich durch Ihre Worte zu sehr persönlich getroffen. Nach der Rede im Foyer ließ sich feststellen, dass ich mit dieser Einschätzung nicht alleine bin." Koall empfinde die Bezeichnung "Halbwesen" für künstlich gezeugte Menschen als widerwärtig. "Man muss sehr viel Selbstbeherrschung aufbringen, um sich vom Sprachduktus nicht an Zeiten erinnert zu fühlen, in denen eine solche Wortwahl dazu diente, die Würde von Menschen antastbar zu machen."
Und dann bringt Koall das auf den Punkt, was in jüngster Zeit die Intellektuellen, Kulturschaffenden und Publizisten umtreibt. Dass Sybille Lewitscharoff mit der Propagierung ihres Menschenbildes kein Einzelfall ist: "Wenn der durchaus prominente Journalist Matthias Matussek jüngst in der 'Welt' (Tageszeitung Die Welt, Anm. d. Red.) offen darüber schwadroniert, dass sein privates Unbehagen gegenüber Schwulen für viele ja offenbar schlimmer sei als Antisemitismus (und damit nur sagt, dass er ein bisschen Homophobie offenbar für absolut okay hält). Wenn Populisten wie der verwirrte Thilo Sarazzin öffentlich beklatscht vor dem 'Tugendterror' warnen (und damit eigentlich nur Raum für Vorurteile, Lügen und Ressentiments schaffen wollen)." Dann befördere all das einen schleichenden Klimawandel in der Gesellschaft.
Ein neuer Geist der Intoleranz?
Sind die Äußerungen von Sybille Lewitscharoff, Matthias Matussek sowie anderer Intellektueller Ausdruck eines neuen Geistes der Intoleranz? Die Tendenz ist nicht neu, wohl aber die Lautstärke. "Wir sehen immer noch intellektuellen Fundamentalismus und Rechtsradikalismus", sagt Renate Rampf vom Lesben- und Schwulenverband Deutschland im Gespräch mit der DW. "Dass Menschen rechte und gleichheitsfeindliche Ideen propagieren, ist kein Ausdruck von Dummheit."
Der Zeitpunkt der Äußerungen ist kein Zufall. Aktuell verzeichnen Homosexuelle in Deutschland zunehmend Erfolge in ihrem Kampf um rechtliche Gleichstellung. Dass sich ausgerechnet jetzt Widerstand regt, verwundert nicht, findet Renate Rampf: "Es ist klar, dass es auf den letzten Metern noch einmal richtig Gegenwind gibt. Insofern ist das keine neue Bewegung sondern der Versuch einer - gesellschaftlich gesehen - rechten und fundamentalistischen Minderheit, die Modernisierung und Demokratisierung der Gesellschaft noch einmal aufzuhalten. "
Die selbst ernannten Vordenker könnten darauf zählen, dass fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung ihre Ansichten teilen, schildert Renate Rampf. Und die, die die Meinung laut aussprechen, stilisierten sich zu selbsternannten Märtyrern: "Im Gestus dessen - ich darf doch meine Meinung sagen - bedienen sie sich eines Opfermythos. Sie beharren darauf, dass sie bessere Menschen sind, dass es einen hierarchischen Unterschied zwischen Homo- und Heterosexualität gebe, einen Abstand zwischen denen, die mehr oder weniger wert sind", sagt Renate Rampf.
Päpstlicher als der Papst
Relevante und hörbare Stimmen, die Lewitscharoffs Thesen teilten, sind nicht zu vernehmen, zu laut scheint der Sturm der Entrüstung. So sagte der Präsident der Akademie der Künste, Klaus Staeck: Bei allem Respekt vor der privaten Meinung der Autorin teile er mit dem Schriftsteller Ingo Schulze die Meinung, dass es "ungeheuerlich" und "in jeder Weise inakzeptabel" sei, künstlich gezeugte Kinder als "Halbwesen" zu bezeichnen.
Widerspruch kommt auch aus Kirchenkreisen: Der Dresdner Bischof Koch betonte, die katholische Kirche stehe der künstlichen Befruchtung sehr kritisch gegenüber. Es sei jedoch zu verurteilen, wenn einem Kind die volle Achtung und die unantastbare Würde als Mensch verweigert werde.
Den sogenannten Verteidigern christlicher Werte ließe sich auch ein Papstwort entgegenstellen: "Wenn jemand homosexuell ist und den Herrn sucht und guten Willens ist, wer bin ich, dass ich über ihn urteile", sagte Franziskus am 29. Juli 2013. Übrigens: Laut dem Medienforschungsinstitut Pew Research Center aus den USA gehört dieses Zitat zu den Top 5 - Zitaten des Jahres 2013. Also: Besser hören, was der Papst sagt.