Ein neues Weißbuch wird gesucht
17. Februar 2015Den Namen hat es wegen der Farbe seines Umschlags: Im sogenannten Weißbuch definiert die Bundesregierung in unregelmäßigen Abständen ihre sicherheitspolitischen Leitlinien. 2006 ist das zuletzt geschehen, davor 1994. In einer globalisierten, sich rasant verändernden Welt sind das Zeiträume, die das jeweils neue Weißbuch zu weitaus mehr machen als einer bloßen Fortsetzung. 1994 war die Sicherheitspolitik nach der deutschen Vereinigung auf eine neue Grundlage gestellt worden. 2006 entstand das Weißbuch unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA und ihren Folgen.
Fast zehn Jahre ist das aktuelle Grundlagendokument nun alt. Das sicherheitspolitische Augenmerk lag damals vor allem auf Afghanistan. Russland galt als "herausgehobener Partner", der Arabische Frühling und das Auftauchen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) lagen in weiter Ferne. 2015 ist die Welt eine andere: In der Ukraine tobt ein Krieg, Russland und die NATO belauern einander wie zu Zeiten des Eisernen Vorhangs, und Deutschland beteiligt sich mit Waffenlieferungen an die Kurden im Kampf gegen den IS.
Keine Illusionen über Russland
Ein neues Weißbuch sei "überfällig", sagt Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die damit auch das Verhältnis zu Russland neu definieren will. Deutschland dürfe sich keinen Illusionen hingeben. Wladimir Putin versuche, international vereinbarte Regeln und verbrieftes Recht durch Dominanz und Einflusszonen zu ersetzen. "Die neue Politik des Kreml hat schon lange vor der Ukraine-Krise begonnen und wird uns noch sehr, sehr lange beschäftigen." Wichtig sei aber auch, wie irgendwann wieder ein Weg zu einer verlässlichen Nachbarschaft mit Russland möglich sein werde, sagte die Ministerin auf der Auftaktveranstaltung zur Erstellung des Weißbuchs 2016 in Berlin.
Mehr als 200 international renommierte Experten aus Politik, Wissenschaft, Medien, Industrie und deutschen sowie anderen NATO-Streitkräften sollen in den nächsten eineinhalb Jahren in Workshops, Kolloquien und Anhörungen über die künftige deutsche Sicherheitspolitik diskutieren. Im Sommer 2016 soll das Weißbuch fertig sein.
Neben den Experten ist aber auch die Öffentlichkeit gefragt. So können Bürger über ein Dialogforum auf der Webseite www.weissbuch.de ihre "Ideen, Anregungen und Kritik" einbringen. "Seit Jahr und Tag wird in Deutschland beklagt, es gebe keine tiefgehende, von konkreten Krisenlagen unabhängige politische Debatte über Sicherheitspolitik und die Rolle unserer Streitkräfte", so Ursula von der Leyen. Der "spannende" Weißbuchprozess biete jetzt die Gelegenheit dafür.
Großmacht in der Mitte
Robin Niblett, Direktor des britischen Think Tanks Chatham House, findet gerade die öffentliche Debatte sehr wichtig. Die deutsche Bevölkerung sei sehr skeptisch, was eine proaktive Rolle Deutschlands in der Welt angehe und müsse überzeugt werden, dass das Land heute mehr Verantwortung zu tragen habe, sagte Niblett auf der Berliner Auftaktveranstaltung zum Weißbuch. Für den Briten ist Deutschlands Einfluss in den vergangenen Jahren sichtbar gewachsen. Die Bundesrepublik sei nicht mehr nur eine mittlere Macht, Niblett spricht explizit von einer "mittleren Großmacht".
Von einer "Ordnungsmacht" spricht Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Deutschland müsse als "verantwortliche mittlere Macht", verstanden werden, "die mit anderen zusammen die europäische und globale Ordnung wahrt und entwickelt". Deutschland sei auf der einen Seite zu klein für die globalisierte Welt und angewiesen auf multilaterale Zusammenarbeit. Gleichzeitig habe die Politik begriffen, dass das Land jedoch zu groß sei, um sich "angesichts bedrohlicher internationaler Entwicklungen einfach weg zu ducken oder einfach nur funktionale Nischen auszufüllen".
Anspruch und Fähigkeiten der Bundeswehr übereinbringen
"Wir machen uns nicht größer, als wir sind, wir machen uns aber auch nicht kleiner", entgegnet Bundesverteidigungsministerin von der Leyen, die sich und die Bundeswehr nicht unter internationalen Zugzwang setzen lassen will. Mehr Verantwortung ja, aber daraus leite sich "kein starrer Handlungskatalog" ab und "keine Checkliste für Auslandseinsätze". Kampfeinsätze der Bundeswehr seien künftig nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber in Krisen und Konflikten gelte es, "genau zu prüfen" und gegebenenfalls zu "unterschiedlichem Einsatz" zu kommen. Das Weißbuch soll definieren, welches grundsätzliche Fähigkeitsprofil die Bundeswehr dafür haben muss. "Hier werden wir über den kontinuierlichen Modernisierungsprozess unserer Streitkräfte zu sprechen haben und wie die Handlungsfähigkeiten mit dem Handlungsanspruch übereinzubringen sind.
Deutschland müsse innerhalb der Bündnisse "verlässlich agieren" und dazu gehöre eine "moderne Rüstungsbeschaffung", eine "zeitgemäße Personalpolitik" sowie ein "angemessenes Budget". Die Truppe habe in den vergangenen Jahren fundamentale Veränderungen erlebt, angefangen von der Aussetzung der Wehrpflicht über eine Neuausrichtung, die "keine einzige Struktur unberührt gelassen" habe, bis hin zu der Tatsache, dass "der Zulauf von Rüstungsgütern mit Problemen gepflastert" sei.
Gemeinsam stärker
Insgesamt soll das Weißbuch vier Themenfelder umfassen. Neben den Perspektiven der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, bezogen auf das absehbare Aufgabenspektrum der Bundeswehr, wird es auch um die Partnerschaften und Bündnisse gehen. Welche Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Grenzen gibt es in der EU, in der NATO, der OSZE und bei den Vereinten Nationen? "Ich denke, wir erleben nach der Vernetzung unserer Instrumente in den kommenden Jahren die Vernetzung der internationalen Allianzen und Organisationen, auch über die herkömmliche Sicherheitsarchitektur hinaus", erklärt von der Leyen.