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Ein Leben mit Gummibärchen

3. März 2010

Ist es Traum oder Albtraum, über 40 Jahre eine Arbeitsstelle zu haben? Ohne Karriere und Spitzengehalt? Oder wenn ein Aufstieg mit radikalen Umbrüchen der Arbeitswelt einhergeht? Fünf Porträts. Heute: Marie-Rose Zensen

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Porträt Marie-Rose Zensen (Copyright: Dieter Seitz)
Bild: Dieter Seitz

Beherzt hievt Marie-Rose Zensen eine große Dose Süßigkeiten auf die Waage: knallgelbe Zuckerbananen, fünf Gramm das Stück. Exakt drei Kilo muss jede Packung enthalten. Das Gewicht stimmt, stellt sie mit routiniertem Blick auf die Anzeige fest. Jetzt noch die Dosen Nummer zwei bis fünf, jedes Gramm ist wichtig. Alle halbe Stunde geht das so, dann verlässt Marie-Rose Zensen ihr Büro und taucht zum Kontrollgang in den ohrenbetäubenden Lärm der Werkshalle ein, wo riesige Maschinen aus krakenartigen Röhren buntes Naschwerk ausspucken: Kaskaden von knackesüßen Erdbeeren, Bananen und Gurken knattern heraus. Den meisten Krach macht Viola, die lilaglänzend überzogene Lakritze. Etwas dezenter purzeln die Bären aus den Geräten. Dann gehen auch sie auf die teilautomatisierte Verpackungsstrecke und landen, in Tüten und Dosen gefüllt, im Verantwortungsbereich von Marie-Rose Zensen. Seit über 40 Jahren kennt sie sich aus im Reich von Gummibärchen & Co.

Tütchen mit Süßigkeiten auf dem Fließband in der Verpackungsanlage, darüber die Hand von Frau Zensen (Copyright: Dieter Seitz)
Kein Zuckerschlecken: Arbeit in der Süßwaren-VerpackungBild: Dieter Seitz

Als sie hier anfing, hat sie selbst Bärchen und Lakritze in Tüten verpackt. Das war 1966. Eigentlich arbeitete sie damals in ihrer französischen Heimat, in Marseille. Aber die Firma Haribo suchte Mitarbeiterinnen als Saisonkräfte, und Marie-Rose, gerade 18 Jahre jung, meldete sich freiwillig. Zusammen mit acht Kolleginnen wurde sie per Kleinbus nach Bonn gebracht – für drei Monate. Im nächsten Jahr das gleiche Spiel. Und es gefiel ihr so gut, dass sie nach einer Festanstellung fragte: "Die Bedingungen waren hier besser als in Frankreich, auch die Bezahlung. Die waren hier zufrieden mit meiner Arbeit, und 1968 bin ich für immer hierher gekommen!"

Lakritze zählen im Akkord

Die Arbeit war damals schwerer als heute: Die Bärchen lagen auf einem Holzbrett, mussten gezählt und einzeln von Hand in Tüten und Dosen verpackt werden. "Wir haben Akkord gearbeitet, den ganzen Tag! Das war sehr anstrengend." 25 Jahre lang hat sie das durchgehalten - eine halbe Ewigkeit.

Dann kam die Zeit der Maschinen: An der "Drei-Kilo-Maschine", die noch heute in Betrieb ist, musste Marie-Rose Zensen fertig gepackte Tüten in Drei-Kilo-Beutel umpacken, die wiederum in Kartons legen und weiterschieben. Das Bärchenzählen war zwar vorbei - trotzdem war das kein Vergnügen: "Immer dieselbe Arbeit! Und immer dieselbe Bewegung, weil ich immer an derselben Maschine war!" Kein Wunder, dass sie bald Probleme mit der Schulter hatte: "Drei Monate lang hatte ich Schmerzen!"

Ein paar Jahre später wurde eine neue Bürokraft gesucht. Die Wahl fiel auf Marie-Rose Zensen, weil sie die Arbeit in der Verpackungsabteilung so gut kannte. "Da wurde ich rausgenommen aus der Maschine", erzählt sie, "dann musste ich Paletten und Kartons zählen, aber an der Maschine musste ich nicht mehr arbeiten!" Im Büro arbeitet sie heute noch. Exakt führt sie Buch über die Packungen, die in jeder einzelnen Maschine fertig werden. Stimmt etwas nicht, müssen die Geräte neu justiert werden. Sie bestellt Etiketten, auch für den Export, denn Gummibärchen, Zuckerbananen & Co. gehen weltweit auf Reisen. Außerdem ist sie mitverantwortlich für die Hygiene in der Abteilung: "Wir müssen aufpassen, dass die Leute hier sauber angezogen sind, wir müssen uns auch morgens die Hände waschen und desinfizieren". Und wenn sie durch die Werkshalle geht, fällt ihr Blick auf die Drei-Kilo-Maschine, an der sie so lange gearbeitet hat. Jetzt stehen hier Jüngere und halten die Knochen hin.

"Man hat sich dran gewöhnt"

40 Jahre Gummibärchen, das heißt für Marie-Rose Zensen noch heute jeden Tag den tosenden Lärm der Verpackungsmaschinen in den Ohren zu haben, jeden Tag den intensiven Geruch von Lakritze in der Nase. Aber wenn man sie fragt, wie sie das gemacht hat, ist sie ganz bescheiden: "Das frühe Aufstehen, ja, das fällt manchmal schwer. Aber - man hat sich eben dran gewöhnt". Ob sie stolz ist auf ihre Arbeit? "Stolz? Ich bin zufrieden". Und dann zögert sie lange und denkt noch mal nach. "Doch, eigentlich schon, ich war stolz, dass ich aus der Maschine rausgenommen wurde und ins Büro kam", strahlt sie schließlich. Und: "Ich hab eigentlich immer alles geschafft!"

Porträt Marie-Rose Zensen, strahlend vor blauem Hintergrund (Copyright: Dieter Seitz)
Zukunft ohne Arbeit? Schwer vorstellbar für Marie-Rose Zensen...Bild: Dieter Seitz

Marie-Rose Zensen könnte demnächst in Rente gehen, aber ob sie das in Anspruch nimmt, ist nicht nur eine Frage des Geldes. Durchrechnen lassen wird sie das schon. Aber eigentlich kann sie sich noch gar nicht vorstellen, nur noch zu Hause zu sein: "Man ist es so gewohnt zu arbeiten! Das wird ganz schlimm sein! Das wird langweilig! Wenn ich die Wohnung sauber gemacht habe - was soll ich denn dann zu Hause?"

Auf jeden Fall wird ihr dann weiter der lakritzgeschwängerte Geruch aus ihrer Firma um die Nase wehen, der manchmal über dem ganzen Stadtteil liegt. Und sicher wird sie ab und zu in eine Tüte greifen, die ihre Kolleginnen gepackt haben: "Lakritz mag ich ja nicht so gerne - aber Gummibärchen schon."

Autorin: Aya Bach
Redaktion: Ramón García-Ziemsen