Beruf: Leben schenken
1. März 2010Mit einer eleganten Bremsung kommt die 1200er BMW zum Stehen. Lässig schwingt sich die Fahrerin aus dem Sattel, stilecht in schwarzer Biker-Kluft. Als sie den Helm absetzt, kommt eine sportliche Kurzhaarfrisur zum Vorschein, ein lachendes Gesicht: Schwester Ingeborg, 64, im Einsatz. Jetzt noch schnell vier Etagen rauf, sie muss zur Nachsorge bei einer jungen Mutter, die vor zwei Tagen ihren ersten Sohn geboren hat. Es ist 14 Uhr. Ingeborg Rabe hat schon eine ganze Frühschicht im Krankenhaus hinter sich, aber ihr Arbeitstag ist noch lange nicht zu Ende: Michail muss gewogen werden, quittiert das mit lebhaftem Geschrei. Beim Wickeln ein paar Minuten später verliert er den Rest Nabelschnur, der bis eben noch am Babybauch hing. "Manche Väter tun sich das ins Portemonnaie", erzählt Ingeborg Rabe, "die glauben, das bringt Glück!"
Blutwäsche und Rennbahn
Seit fast einem halben Jahrhundert hat sie nun mit jungen Eltern und Neugeborenen zu tun: Gleich nach der Schule kam sie zum ersten Mal in einen Kreißsaal: "Eigentlich war ich da nur als Putzhilfe. Aber damals musste nach der Geburt noch die Blutwäsche gewaschen werden, da wurde mal jemand gesucht, der das machte. Ich hab mich gemeldet und zum ersten Mal eine Geburt erlebt. Da wusste ich: Ich will Hebamme werden. Und es ist mein Leben geworden!"
Ein anstrengendes Leben, das sie zuerst auf der sogenannten "Rennbahn" verbrachte: In einem Bochumer Krankenhaus der 1960er Jahre. 2000 Geburten im Jahr, Akkordarbeit am lebenden Objekt. "Wir mussten die Neugeborenen damals immer im Kinderzimmer einsammeln, auf einen Wagen stapeln - klingt krass, oder? – dann an die Brust anlegen bei den Müttern, die gestillt haben, und danach wieder einsammeln und wiegen. Ich selbst hab damals zehn Pfund abgenommen. Man hatte nie Zeit für die Mütter, wir nannten das darum die Rennbahn."
Heute ist alles anders. Ingeborg Rabe arbeitet inzwischen seit über 40 Jahren im Bonner Elisabeth-Krankenhaus. Einen "Kreißsaal" gibt es da zwar auch, aber der ist ein komfortables Zimmer in freundlich-sanften Farben, in dem nur eine werdende Mutter betreut wird. Und Schwester Ingeborg hat Zeit genug: für Atemübungen, Massagen, für die Ängste der Frauen, für Fragen und Antworten.
"Alle Probleme kommen hier nieder!"
"Hebamme zu sein, ist das Schönste, was es gibt", sagt sie heute noch: "Die Frau gibt sich ja ganz hin, sie ist uns ausgeliefert. Alle Probleme, die sie zu Hause hat, kommen hier nieder. Und Sie haben es in der Hand, das zu begleiten. Das ist manchmal sehr schwer. Aber ich habe gelernt, den Frauen zu zeigen: Du hast Deine Stärke!"
Eine starke Frau ist Ingeborg Rabe selbst, das musste sie auch sein. Früher hat sie 16-Stunden-Schichten im Krankenhaus gemacht, jahrelang. Damals hatte sie zwei kleine Kinder. Die lebten regelrecht mit ihr im Krankenhaus: "Zu Weihnachten waren die hier die Stars! Die sind als Engel zu den Patienten gegangen und haben Geschenke verteilt. Das war unser Zuhause! Und ist es auch jetzt noch!"
Bei aller Begeisterung für den Beruf: Ganz freiwillig hat Ingeborg Rabe die 16-Stunden-Dienste nicht gemacht. Hebammen wurden damals – und werden heute noch – so schlecht bezahlt, dass fast alle Überstunden machen oder Zusatzjobs annehmen müssen. Ingeborg Rabe macht heute nebenher Geburtsvorbereitung und Nachsorge, darum braust sie vor oder nach ihrer Schicht mit dem Motorrad durch Bonn: "Da kann ich mir mal eine Kleinigkeit extra leisten. Wenn man das nicht macht, fällt das flach; man ist darauf angewiesen! Das ist eigentlich nicht in Ordnung. Hebamme sollte man nur aus Leidenschaft werden. Wer das aus finanziellen Gründen macht, ist hier verkehrt!"
40 Jahre Nachtschicht
Leidenschaft für ihre Arbeit hat Ingeborg Rabe wohl im Überfluss, das war schon immer so: "Die 16 Stunden haben mir nichts ausgemacht! Wenn ich in den 16 Stunden vier Geburten hatte, dann bin ich nach Hause gegangen und habe gesagt: Wow! Das war gut! Im Nachhinein würde ich sagen: Eine Hebamme, die verheiratet ist, hat es sehr schwer – oder der Mann muss sehr tolerant sein!" Ingeborg Rabe war selbst verheiratet: "Ich habe mich getrennt. Und nur für den Beruf gelebt!"
Den Patientinnen kommt das zugute: Sie spüren, wie sich "Schwester Ingeborg" ihnen widmet. Immerhin, das ist keine Einbahnstraße: "Wenn man die Frauen massiert und die finden das toll, dann kommt diese Zuwendung zurück. Man gehört dann mit zur Familie!" Das gilt allerdings auch dann, wenn es schwer wird: Ingeborg Rabe hat oft erlebt, dass Kinder tot geboren werden: "Dann ist es ganz wichtig, dass die Frau gut begleitet wird, dass sie sich verabschieden kann, das Kind in den Arm nimmt, es ansieht und vergleicht, was es von ihr oder vom Partner hat. Da weinen wir mit ihr und beten auch für sie. Ganz hart ist es, wenn ein Kind bei der Geburt stirbt. Da brauchen Sie lange dafür, auch um das selbst zu verkraften."
So viel bedingungslose Hingabe hat ihren Preis: “Ich habe eines Tages gemerkt, dass ich bei den Geburten einen roten Kopf hatte, und habe mal Blutdruck gemessen: 240 zu 170!“ Die Hausärztin gab ihr den Tipp, weniger zu arbeiten. Bevor sie das ernst nahm, verging ein ganzes Jahr. Die Kollegen schlugen ihr vor, keine Nachtdienste mehr zu machen. "Das hatte wahrscheinlich schon was damit zu tun", sagt sie heute: "40 Jahre Nachtschicht! Das ist doch anstrengend!" Jetzt macht sie nur noch Früh- und Spätschicht.
Für Wehwehchen keine Zeit
Geblieben sind Schlafstörungen. Aber jammern würde sie wohl niemals über die anstrengenden Jahrzehnte: "Wenn ich aufstehe, ist es nicht mehr so, wie es mal war. Aber wenn ich auf meinem Motorrad sitze, bin ich wieder die Alte. Da ich immer mit jungen Leuten zu tun hab, fühl ich mich tausendmal besser als meine früheren Bekannten, die schon mit 60 in Rente gegangen sind und sagen: Mir tut‘s hier weh, mir tut‘s da weh. Für sowas hab ich gar keine Zeit!"
Sagt sie und unterbricht das Interview für eine Weile: Sie muss sich um ihre Patientin kümmern, die in den Wehen liegt. Wenn es nach Schwester Ingeborg ginge, würde sie noch mal 40 Jahre lang Mütter massieren, mit ihnen atmen, leiden, glücklich sein. Als sie zurückkommt, lacht sie: "In unserer Familie haben alle ein Helfersyndrom." Von der Mutter geerbt? "Ich habe meine Eltern nie kennengelernt. Meine Mutter ist bei der Geburt gestorben, wahrscheinlich Fruchtwasserembolie. Mein Vater ist in russischer Gefangenschaft ums Leben gekommen. Zu meiner Pflegemutter hat man über mich gesagt: Die hat so lange Fingerchen, die wird bestimmt mal Hebamme. Aber warum ich das wirklich geworden bin? Ich könnte mir keinen anderen Beruf vorstellen!"
Autorin: Aya Bach
Redaktion: Ramón García-Ziemsen