Ein historischer Schritt für die EU und die Türkei
4. Oktober 2005Mit dem offiziellen Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei hat die EU einen historischen Schritt gemeistert und ihre eigenen Sicherheitsinteressen in einer besonders wichtigen Region gewahrt. Das umso mehr, weil die Türkei längst nicht mehr wie in Zeiten des Kalten Krieges als NATO-Land die Südostflanke bewacht, sondern eine zentrale Rolle im neuen nah-mittelöstlichen Krisengürtel spielt.
Eine Überforderung wäre kontraproduktiv
Die Verhandlungen haben zwar als Ziel den Beitritt, aber ihr Ergebnis kann nicht garantiert werden. Die Entscheidung darüber, ob eine politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich modernisierte Türkei als Vollmitglied in eine ebenfalls veränderte Europäische Union eintritt oder nicht, steht erst nach vielen Jahren zur Debatte. Eine Überforderung der Türkei zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist kontraproduktiv und führt unweigerlich zur Stärkung der nationalistischen Anti-Europäer unter dem türkischen Halbmond.
Die Ängste der Europäer vor der Türkei sind ebenso nachvollziehbar und verständlich wie die Furcht der türkischen Bevölkerung vor unüberlegten Schritten in Richtung Europa. Intern hat die Türkei noch viele Hürden zu überspringen. Die regional großen Entwicklungsunterschiede können erst nach vielen Jahren ausgeglichen werden. Wie schwer das ist, weiß allen europäischen Staaten voran Deutschland, das sich um eine Beseitigung der Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland bemüht und dabei schwere Lasten abtragen muss.
Das Risiko des Scheiterns ist groß
Aber auch in Bereichen Demokratie, Menschenrechte, Armenierfrage und Kurden-Konflikt muss die Türkei noch den Beweis erbringen, dass sie europafähig ist und sich bei der Konfliktlösung an europäischen Werten orientiert. Ebenso wird das Zypern-Problem von der Türkei mehr Kompromissbereitschaft verlangen, als heute angenommen wird. Das EU-Recht muss in 35 einzelnen Kapiteln von der Türkei übernommen werden. Damit hat jeder einzelne EU-Staat 35 Chancen, ein Veto einzulegen, denn jedes Kapitel kann nur einstimmig be- und abgeschlossen werden.
Der Verhandlungspoker, den Österreich versucht hat, war nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was morgen jedes andere EU-Land versuchen könnte. Das Risiko des Scheiterns ist hoch, auch wenn man bedenkt, dass am Ende noch alle Mitgliedsstaaten - einige in Volksabstimmungen - den Beitrittsvertrag mit der Türkei ratifizieren müssen. Die EU steht wegen ihrer zu schnellen und schlecht verdauten Vergrößerung um acht osteuropäische Länder vor enormen Problemen und vor einem riesigen Reformstau. Die Rechnung dafür allein der Türkei aufzubürden, wäre einfach unfair gewesen.