EU nimmt Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf
4. Oktober 2005Die EU hatte sich nach einer Blockade der österreichischen Regierung erst am Montag (3.10.2005) auf die endgültigen Vorgaben der Verhandlungen geeinigt. Die EU begann zudem auch Beitrittsverhandlungen mit Kroatien. Dies war möglich geworden, nachdem UN-Chefanklägerin Carla del Ponte dem Land volle Kooperation mit dem UN-Tribunal in Den Haag bescheinigt hatte.
Historischer Moment
"Wir haben soeben Geschichte geschrieben", sagte der britische Außenminister Jack Straw nach dem Beginn der Verhandlungen mit der Türkei in Luxemburg. Dies sei ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zum Beitritt. Die Türkei habe bei der Zeremonie zur offiziellen Verhandlungseröffnung eine sehr konstruktive Erklärung abgegeben. Laut Diplomaten war die Erklärung mit Applaus bedacht worden. Der türkische Außenminister Abdullah Gül sprach von einem Wendepunkt der Beziehungen zwischen seinem Land und der Europäischen Union. Gül sagte, er habe keinen Zweifel, dass sich die Türkei sehr stark verändern werde.
Ära des Friedens
Der Beginn der Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei ist auch nach Ansicht Griechenlands ein historischer Moment, der zur Stabilität beitragen und den Frieden in Südosteuropa sichern wird. Diese Ansicht vertrat am frühen Dienstagmorgen der griechische Außenminister, Petros Molyviatis, im griechischen Fernsehen (NET). "Es beginnt ein neues Zeitalter. Es ist eine Ära des Friedens und der Stabilität in der Region, die zu Gunsten des griechischen und des türkischen Volkes sowie aller Menschen der Region sein wird", sagte der griechische Außenminister. Molyviatis begrüßte auch den Beginn der Beitrittsverhandlungen der EU mit Kroatien. Athen sei der Ansicht, dass der EU-Beitritt aller Balkanstaaten der einzige Weg für Stabilität auf dem Balkan ist.
Überforderung der EU
Die größte Fraktion im EU-Parlament forderte unterdessen, den Druck auf die Türkei aufrecht zu erhalten. Dabei komme der neuen Regierung in Berlin eine zentrale Rolle zu, sagte der Fraktionschef der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, Hans-Gert Pöttering (CDU) der Berliner Zeitung. Für eine unionsgeführte Bundesregierung werde immer die privilegierte Partnerschaft im Vordergrund stehen. Es sei für CDU/CSU unvorstellbar, dass sie plötzlich Ja sagt zur Mitgliedschaft. Daran ändere eine Regierungsübernahme nichts. Das Nein gelte unabhängig vom Zeitpunkt eines möglichen Beitritts, sagte Pöttering. Er persönlich halte die Mitgliedschaft der Türkei für eine Überforderung der EU - sowohl politisch wie kulturell, finanziell und geografisch, sagte Pöttering. Ankara müsse seine Reformbeschlüsse in die Realität umsetzen. Als Beispiel nannte Pöttering die Menschenrechte: Zum ersten Mal verhandle die EU mit einem Staat, in dem es noch Folter gebe.
Verzicht auf Nachforderungen
Die Türkei-Verhandlungen waren lange vom Scheitern bedroht, weil Österreich verlangt hatte, das Ziel eines Beitritts der Türkei als Ziel nicht explizit zu erwähnen. Österreichs Außenministerin Ursula Plassnik verzichtete aber im Laufe des Montags unter dem Druck der anderen 24 Mitgliedstaaten auf den größten Teil der Wiener Nachforderungen. So blieb es in dem offiziellen Text bei der schon im Dezember gemachten Aussage, dass das Ziel der Verhandlungen der Beitritt sei. Das Dokument nennt nun allerdings an prominenter Stelle ausdrücklich die Aufnahmefähigkeit der EU als eines der Kriterien für den Beitritt. Das bedeutet, dass auch die EU fähig sein muss, ein weiteres Mitgliedsland zu verkraften.
Britische Rechnung
Die Türkei stimmte dem überarbeiteten Verhandlungsrahmen zu. US-Außenministerin Condoleezza Rice hatte sich dafür persönlich bei der türkischen Regierung eingesetzt, sagte ein Sprecher des US-Außenministeriums. Nach der Einigung hatte sich Gül auf den Weg nach Luxemburg gemacht. Dort traf er gegen Mitternacht ein. Ursprünglich hätten die Verhandlungen am Montag um 17.00 Uhr beginnen sollen. Immerhin: mit einem kleinen Trick wurde der vorgesehene Tag für den Verhandlungsbeginn noch eingehalten. "Wir waren in der Lage, den Termin des 3. Oktober einzuhalten, denn ich habe meine Rede vor Mitternacht britischer Zeit begonnen, und das ist die Zeit der Präsidentschaft", scherzte Jack Straw. Die britische Sommerzeit liegt eine Stunde hinter der mitteleuropäischen. Gül zeigte sich angesichts der Zeitrechnungskniffe amüsiert und bezeichnete sie als Teil des türkischen Lernprozesses während der Beitrittsverhandlungen. "Jack hat uns allen gesagt, es sei der 3. Oktober gewesen, und wir werden lernen, diese Spiele unter seiner Anleitung zu spielen", sagte der türkische Außenminister.
Verhandlungen mit Kroatien
Beobachter brachten das Einlenken Österreichs mit der Entwicklung in der Kroatien-Frage in Zusammenhang. Wien hatte sich in den vergangenen Wochen als starker Fürsprecher für baldige Verhandlungen mit Kroatien präsentiert. UN-Chefanklägerin Del Ponte bescheinigte Kroatien in Luxemburg, seit einigen Wochen vollständig mit dem Haager UN-Tribunal für Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien zu kooperieren. Das Gericht hatte Kroatien bisher vorgeworfen, nicht alles zu tun, um den als Kriegsverbrecher gesuchten kroatischen General Ante Gotovina nach Den Haag auszuliefern.
Damit räumte Del Ponte das größte Hindernis für den Verhandlungsbeginn aus dem Weg, deren Start von der EU im März wegen mangelnder Kooperation Zagrebs auf Eis gelegt worden war. Die EU einigte sich noch am Montagabend darauf, die Verhandlungen mit Kroatien unverzüglich aufzunehmen. Sie begannen in der Nacht unmittelbar nach denen mit der Türkei.
Keine ganz unbedeutende Rolle in der österreichischen Blockade-Taktik dürfte auch ein wichtiger Wahltermin in Österreich gespielt haben. Am Sonntag hatte die Steiermark einen neuen Landtag gewählt. Im Wahlkampf schien sich die konservative Volkspartei (ÖVP) von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel außenpolitisch als Türkei-Kritiker positionieren zu wollen - freilich ohne Erfolg, denn sie erlitt ein historische Niederlage. Dass sich Österreich auch am Tag nach dieser Wahl noch weiter gegen die ansonsten einstimmig beschlossene Marschrichtung der EU stemmen würde, war wohl nicht ernsthaft zu erwarten. (chr)