Ein Dokument der Beliebigkeit
21. März 2005Seien wir mal ehrlich: Es kommt selten vor, dass Sünder beschließen, sich selber zu bestrafen. Insofern war der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, den Deutschland seinerzeit als Bedingung für den Verzicht auf die D-Mark durchgesetzt hatte, von Anfang an eine Fehlkonstruktion. Denn es gab und gibt zu viele Sünder. Länder wie Griechenland oder Italien hätten, wenn die Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages von Anfang an buchstabengetreu eingehalten worden wären, erst gar nicht in den Club der Euro-Länder aufgenommen werden dürfen.
Frankreich hat den Pakt von 2002 bis 2004 verletzt, Portugal im Jahr 2001, die Niederlande im Jahr 2003, Griechenland hat sich permanent durchgeschwindelt, und Deutschland, der Initiator dieses Paktes, hat sich seit 2002 nicht ein einziges Mal an die Obergrenze der jährlichen Neuverschuldung von drei Prozent der jährlichen Gesamtwirtschaftsleistung gehalten.
Wenn am Dienstag (22.3.05) die Regierungschefs unterschreiben, was ihre Finanzminister (oder Sünder) in der Nacht zum Montag beschlossen haben, dann gilt zwar der Stabilitätspakt formal immer noch - auch die Drei-Prozent-Grenze und die Obergrenze der Gesamtverschuldung von 60 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts werden formal nicht angetastet. Doch in Wirklichkeit ist dieser Pakt dann zu einem Dokument der Beliebigkeit verkommen.
Denn die EU-Kommission, die über die Einhaltung der Grenzen wachen soll, wird angewiesen, bei Defizit-Strafverfahren so genannte Ausnahme-Tatbestände zu berücksichtigen. So kann der deutsche Finanzminister zum Beispiel die Kosten für den Aufbau in Ostdeutschland als Sonderbelastung geltend machen - und andere Staaten werden folgen und viel Phantasie darauf verwenden, neue Ausnahme-Tatbestände zu erfinden.
Die Lockerung des Stabilitätspaktes sei keine Lizenz zum
Schuldenmachen, sagt der deutsche Finanzminister Hans Eichel - doch genau so wird es insgeheim in Euroland verstanden werden. Die Idee des Stabilitätspaktes ist tot. Die Idee war, die Aufnahmekriterien des Maastricht-Vertrages zu dauerhaften Kriterien zu machen, um die Selbstdisziplin in der Haushaltspolitik zu fördern. Die Idee war, künftigen Generationen nicht einen riesigen Schuldenberg zu hinterlassen. Die Idee war, der übrigen Welt zu signalisieren, dass Euroland ein elementares Interesse an einem starken und stabilen Euro hat.
Von diesen Ideen ist nicht viel übrig. Und es gehört nicht viel Phantasie dazu, vorauszusagen, wohin sich die politische Diskussion in Brüssel in den nächsten Jahren verlagern wird: Nämlich auf die Frage, was denn alles als Ausnahme-Kriterium angesehen werden darf. Gehören Ausgaben für Forschung und Bildung dazu? Kann Frankreich seine Entwicklungshilfe geltend machen? Sind nicht auch
Investitionen in die Infrastruktur dazu zu zählen, weil sie ja
schließlich für künftige Generationen getätigt werden? Dem Gezänk in Brüssel sind Tür und Tor geöffnet.
Immerhin kann Euroland darauf verweisen, dass seine Währung auch ohne große Haushaltsdisziplin seiner Mitgliedsländer zu einer starken und stabilen Währung geworden ist. Doch dieser Eindruck täuscht. An den Devisenmärkten ist der Euro nur deshalb momentan so
gefragt, weil viele Anleger sich Sorgen über das amerikanische Zwillingsdefizit machen und deshalb den Dollar meiden. Aber sie fragen den Euro bestimmt nicht nach, weil sie die Stabilitätspolitik und Haushaltsdisziplin der Euroländer bewundern. Denn da gibt es wirklich nichts, was zu bewundern wäre.