Eigendorf - Tod dem Verräter
5. März 2013Um 22 Uhr scheint die Welt für Lutz Eigendorf noch in Ordnung, jedenfalls halbwegs. Gemeinsam mit seinem Fluglehrer Manfred Müller trinkt er noch ein letztes Bier in der Kneipe "Cockpit". Vielleicht spült er damit auch den Frust über die 0:2-Pleite seiner Braunschweiger Eintracht gegen den VfL Bochum herunter, bei der er nur auf der Bank saß. Danach aber ändert sich alles im Leben des Bundesliga-Profis und DDR-Flüchtlings Lutz Eigendorf. Gegen 23 Uhr prallt sein Sportwagen mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum. Eigendorf hat zur Unfallzeit 2,2 Promille Alkohol im Blut und erliegt zwei Tage später seinen Verletzungen. Ein Unfall, der viele Fragen aufwirft – und der möglicherweise gar kein Unfall war.
Woher stammte der Alkohol in Eigendorfs Blut?
Die Nacht jenes 5. März 1983 im Braunschweiger Stadtteil Querum erhitzt bis heute die Gemüter. In den bekannten Stasi-Akten zu Eigendorf gibt es Hinweise darauf, dass er vergiftet werden sollte. Und die 2,2 Promille im Blut wirken auf Basis der heutigen Erkenntnisse zumindest dubios: "Laut mehreren Augenzeugen hat er zwar ein, zwei Bier getrunken. Alle Zeugen sagen aber, dass Eigendorf nüchtern war, als er das Lokal verlassen hat", sagte Historiker Andreas Holy der DW. Holy erforschte den mysteriösen Tod des Fußballers und glaubt eher an einen Mord als an einen Unfall.
Warum aber fand nach dem Alkoholtest am Unfallort keine vollständige Obduktion der Leiche statt? Warum wurde der Unfallwagen nicht richtig untersucht? Heribert Schwan hat seine eigene Antwort: "Die Staatsanwaltschaft hat sich nie richtig dafür interessiert, obwohl ich sie durch meine Akten-Funde erst aufmerksam gemacht habe", kritisierte der Autor und Journalist, "da ist leider sehr viel durch die Justiz verschlampt worden." Selbst der ehemalige Oberstaatsanwalt Braunschweigs, Hans-Jürgen Grasemann, gibt zu: "Der Verdacht hat uns nie losgelassen, dass die Staatssicherheit doch ihre Hände im Spiel gehabt haben könnte."
"Ich habe ihn immer gewarnt"
Heribert Schwan recherchierte für seine ARD-Dokumentation "Tod dem Verräter" (2000) in den Akten der "Hauptabteilung XXII des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR" (Stasi) und fand eine verräterische Notiz. "Verblitzen, Eigendorf" steht dort. "Verblitzen" stand im Stasi-Fachjargon für das gezielte plötzliche Blenden eines Autofahrers – genau wie es kurz vor dem tödlichen Unfall Eigendorfs geschehen sein soll. Eigendorf wäre demnach von den Scheinwerfern geblendet gegen den Baum gerast. War der Unfall des Bundesliga-Profis ein gezieltes Attentat?
Der 2010 verstorbene Bundesligatrainer Jörg Berger meinte ja. "Das war kein Unfall, das war zu 95 Prozent Mord." Berger, der 1979 selbst über Jugoslawien aus der DDR floh und ebenfalls danach im westdeutschen Fußball Erfolg hatte, ahnte schon früher, dass so etwas passieren könnte. "Lutz war ein Junge, der das Leben mitgenommen hat, der sehr unbedarft war. Ich habe ihn immer wieder gewarnt", erzählte Berger 2000 im DW-Interview. "Ich hab gemerkt, dass die Stasi immer in meiner Nähe war. Ich bin unter Druck gesetzt worden und es gab Momente, in denen ich viel Angst hatte. Ich habe mich bei öffentlichen Auftritten zurückgehalten, was die DDR betraf. Und Lutz wollte sich zeigen, denen eins auswischen. Ich habe ihn gewarnt und ihm gesagt: Das lassen die sich nicht gefallen und irgendwann kriegst Du mal einen über die Rübe."
Eigendorf provozierte die DDR-Machthaber
Eigendorf wurde aber nicht vorsichtig – im Gegenteil: Während er sein neues Leben im Kapitalismus mit italienischem Sportwagen genoss, gab er sogar Interviews direkt vor der Berliner Mauer – ein Affront an die empfindliche Staatssicherheit. "Ich glaube, dass der Reiz in der Bundesliga zu spielen, wo das Niveau doch deutlich höher ist als in der DDR-Oberliga, doch sehr groß war und ich es einfach noch mal wissen wollte", sagte Eigendorf im Interview – wenige Tage vor seinem Tod.
Dabei war auch Eigendorf die Gefahr bewusst. "Er hat immer gedacht, dass die (Stasi, Anm. d. Red.) versuchen könnte, ihn zurückzuholen mit aller Macht. Er hatte Angst, er wird entführt", erinnerte sich seine zweite Ehefrau Josi Eigendorf in der ARD. Dabei plante die Staatssicherheit vielleicht längst anderes, um Eigendorf los zu werden. "Gifte, Gase" und "Narkosemittel" werden in der Stasi-Notiz mit der Nummer 22 aufgeführt, darunter der Name "Eigendorf".
"Ich wusste, dass ich in Lebensgefahr war"
Trainer Jörg Berger ahnte, wozu die Spitzel der DDR auch in Westdeutschland fähig waren: "Ich wusste, dass ich in Lebensgefahr war. Man wusste alles über uns: Wo das Schlafzimmer war, wo das Auto stand, wohin man fährt, welche Bekannte man hat. Die Stasi war im Westen sehr gut organisiert und wusste eigentlich alles." Mehrere DDR-Sportler setzten sich bei Auslandsreisen ab und flohen in den Westen. Warum aber sollte die Stasi ausgerechnet auf Eigendorf Jagd gemacht haben? Die Sporthistorikerin Jutta Braun glaubt die Gründe in Eigendorfs Laufbahn zu finden: "Das besondere am Fall Eigendorf ist, dass er Spieler beim BFC Dynamo war – das war bekanntermaßen der Lieblingsklub von (Stasichef, Anm. d. Red.) Mielke. Der hat die Flucht Eigendorfs als persönlichen Verrat empfunden".
1956 in Brandenburg an der Havel geboren zeigte Eigendorf früh Talent als Defensivspieler und wurde bereits mit 22 Jahren Nationalspieler in der DDR. Doch kurz nach einem Freundschaftsspiel seines Klubs BFC Dynamo beim 1. FC Kaiserslautern setzte sich Eigendorf ab und spielte später für Kaiserslautern sowie Eintracht Braunschweig, für die er insgesamt 61 Bundesligaspiele bestritt.
"Keine objektiven Hinweise auf ein Fremdverschulden"
Trotz aller Hinweise: Wahrscheinlich wird weiterhin unklar bleiben, was vor 30 Jahren zum Unfall und damit zum Tod von Lutz Eigendorf geführt hat. 2011 prüfte die Berliner Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme eines Mord-Verfahrens in dem Fall. Ergebnis der Prüfung war aber: "Keine objektiven Hinweise auf ein Fremdverschulden" – auch weil viele Stasi-Akten zu dem Fall verschwanden.