Spitzensportler auf der Flucht
7. August 2012August 1969: Axel Mitbauer ist gerade mal 19, als er in Boltenhagen, dem einst westlichsten Badeort der DDR, hinaus auf die Ostsee schwimmt. 22 Kilometer im nicht sehr warmen Wasser liegen vor ihm. Sein Ziel: das freie Westdeutschland. Damit seine Haut auf dem langen Weg in den Westen nicht aufweicht, hat er den Inhalt von 30 Tuben Vaseline auf der Haut. Das Schwimmen war "keine Riesenleistung" sagt der heute 62-Jährige. Das größte Problem sei die Kälte gewesen. Und "dass ich die Richtung halten konnte." Auf einer Leuchtboje in der Lübecker Bucht ruht er sich aus, bis ihn die Passagierfähre "Nordland" findet. Als Topathlet gehört er zu den wenigen, die der DDR schwimmend entkommen konnten. Am nächsten Tag stellt die Boulevard-Zeitung "Bild" die Geschichte fotografisch nach. Die Genossen der Staatssicherheit in Ostberlin toben.
Der DDR weggekrault
Ende der 1960er Jahre gilt der Leipziger als einer der weltbesten Mittelstreckenschwimmer. Doch er gerät, indem er offen Kritik übt, zunehmend mit dem DDR-Regime in Konflikt. Auch die Maßnahmen der Staatsführung, die Bürger politisch zu manipulieren, sind ihm ein Dorn im Auge. Weil er sich während eines Länder-Wettkampfes in der ungarischen Hauptstadt Budapest heimlich mit westdeutschen Schwimmern trifft und sie sogar um Fluchthilfe bittet, gerät er ins Visier der DDR-Staatssicherheit. 1968, kurz nachdem die Fluchtpläne auffliegen, kommt er - während in Tokio die Olympischen Sommerspiele laufen - ins berüchtigte Ostberliner Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen: Dunkelzelle, Einzelhaft, zwölfstündige Verhöre.
Nach sieben Wochen Einzelhaft ist Mitbauer wieder frei. Aber der 1,92 große Mann wiegt nur noch 59 Kilo, seine sportliche Zukunft hat man ihm verbaut. Er ist seelisch gebrochen, weswegen Axel Mitbauer im August 1969 der DDR davon krault. Kurz darauf verschärft der Staat die Überwachung, DDR-Spitzensportler werden aufs penibelste kontrolliert. Man beginnt, die Sportler bis in die intimsten Bereiche komplett auszuspionieren, manchmal mit Hilfe von Familienmitgliedern. Wer eine Flucht vereiteln kann, wird mit Orden und Geldprämien belohnt. Axel Mitbauer ist einer von rund 615 Aktiven aus dem Bereich des Hochleistungssports, die bis 1989 aus der DDR geflohen sind. Vermutet wird aber, "dass die Dunkelziffer noch viel höher ist", so die Potsdamer Sporthistorikerin Jutta Braun. Denn bislang gibt es noch keine systematischen Forschungen.
Sport als Aushängeschild
Die DDR wollte sich gegenüber der Bundesrepublik international behaupten. Und das funktionierte auf vielen Gebieten überhaupt nicht. Anders im Sport: Da sah das SED-Regime eine perfekte Möglichkeit, sich vor der gesamten Weltöffentlichkeit als führende Nation darzustellen und die angebliche Überlegenheit des sozialistischen Systems zu demonstrieren. Dafür wurden im DDR-Sport alle Hebel in Bewegung gesetzt. So gelang es der DDR seit 1968 tatsächlich, im Medaillenkampf bei Olympia besser abzuschneiden als die Bundesrepublik oder die USA. Aus diesem Grund war der Sport für das Regime so wertvoll. Doch durfte nichts von dem nach außen dringen, unter welchen Bedingungen diese Erfolge errungen wurden: Die Trainingsmethoden, die medizinische Betreuung, der permanente Drill, das systematische Doping. Um so schwerer war deshalb der Prestigeschaden, wenn selbst absolute und damit sehr privilegierte Spitzensportler das Land verließen. "Wir waren Krieger", so der 1988 geflüchtete ehemalige Skiflieger Hans-Georg Aschenbach. "Eingesetzt an der politischen Front, kämpfend für die Unsache des Sozialismus." Die Sportler seien Marionetten einer Idee gewesen, die mit dem Sport nicht das Geringste zu tun hatte.
Die Liste der Topathleten, die der DDR den Rücken kehrten, klingt wie ein Who is Who des Spitzensports. Darunter waren - außer Aschenbach - der Fußballtrainer Jörg Berger, die Sprinterin Ines Geipel sowie Jürgen Sparwasser, der einst das legendäre Siegtor der DDR bei der WM 1974 gegen die Bundesrepublik schoss.
Flüchtige Sportler waren auch im Westen nicht in SicherheitDie Flüchtigen wurden vom Regime in Ostberlin als "Sportverräter" geächtet und von der Staatssicherheit auch in Westdeutschland verfolgt. Zu den Ausgespähten gehört auch Hans-Georg Aschenbach. Bei Durchsicht seiner Stasi-Akten, die seit der Wiedervereinigung möglich ist, musste der frühere Skiflieger feststellen, dass er in seiner neuen Heimat weiter minutiös von DDR-Agenten beobachtet worden war. Anderen Sportlern erging es ähnlich. Es gibt Vermutungen, dass die Stasi die Informationen sammelte, um die prominenten Flüchtlinge zu entführen oder gar umzubringen. Bis heute ungeklärt sind beispielsweise die genauen Todesumstände des Fußballers Lutz Eigendorf, der als Beckenbauer des Ostens bekannt wurde. Er war 1979 in den Westen geflohen und zuletzt bei Eintracht Braunschweig als Profi unter Vertrag, bis er im März 1983 bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben kam.
Schwimmer Axel Mitbauer ist davon überzeugt, dass die Stasi auch ihn mithilfe eines fingierten Autounfalls ermorden wollte. Anlass für seinen Verdacht: Während einer Vortragsreise in der Eifel hatte sein Wagen ein komisches Fahrverhalten. "Als ich gestanden habe, waren von fünf Muttern am rechten Vorderrad drei weg, die anderen hatten nur ein paar Umdrehungen", erinnert sich Mitbauer.
Viele der geflüchteten Sportler schweigen immer noch, wenn es um ihre Geschichte geht - aus Angst vor möglichen Stasi-Seilschaften, die angeblich auch heute noch Ex-DDR-Athleten drangsalieren.
Streichung der Rekorde
Bis heute halten DDR-Sportler Rekorde, die vermutlich nur mithilfe von Doping erzielt wurden. Einige empfinden dies als Last der Vergangenheit und wollen mit diesen Leistungen nicht mehr in Verbindung gebracht werden. So hat auch die 1989 geflohene DDR-Weltklassesprinterin Ines Geipel ihre persönlichen Konsequenzen gezogen. Der Rekord ihrer 4-mal-100-Meter-Staffel von 1984 gilt bis heute. Geipel hat inzwischen ihren Namen aus den offiziellen Annalen streichen lassen, da ihr Sieg nur irregulär durch Doping erzielt wurde.