E-Health in Madagaskar
29. Januar 2019Bebiarisoa ist erleichtert. Die 36-Jährige aus Madagaskars Hauptstadt Antananarivo hat vor kurzem die Zwillinge Rija und Rajo zur Welt gebracht. Beide sind gesund. Ohne ihr mobiles Gesundheitssparbuch wäre das möglicherweise nicht der Fall gewesen. Denn nach der Geburt mussten beide Kinder zunächst stationär im Krankenhaus behandelt werden. "Ich konnte nicht in das nächste Gesundheitszentrum gehen, weil eines der Kinder nach der Geburt in den Brutkasten musste. Deshalb ging ich ins Befelatanana-Krankenhaus", erzählt Bebiarisoa. Doch für die Behandlung dort fehlte ihr das Geld. "Ich hatte gerade einmal 5000 Ariary angespart", sagt sie - das entspricht 1,20 Euro. Eine normale Geburt kostet die Angehörigen aber zwischen 20.000 und 30.000 Ariary. "mTOMADY half mir, den Rest zusammenzukriegen", so Bebiarisoa.
Der glimpfliche Ausgang war nicht selbstverständlich. Bei ihrer letzten Schwangerschaft unterzog sich Bebiarisoa zum ersten Mal einer Ultraschalluntersuchung. Zwar hatte sie zuvor schon drei Kinder zur Welt gebracht, doch immer war sie gezwungen, Kosten zu sparen. Von solchen Situationen kann der Berliner Neurologe Julius Emmrich ein Lied singen. Emmrich ist Vorsitzender des Vereins Ärzte für Madagaskar. "Wenn Patientinnen und Patienten in Madagaskar ihre Krankenhausrechnung nicht bezahlen können, dann werden sie so lange als Geiseln festgehalten, bis ihre Verwandten kommen, um sie auszulösen", erzählt Emmrich. "Viele werden auch gar nicht behandelt, weil sie nicht vorab bezahlen können."
mTOMADY, ein Handy-Sparbuch zur Gesundheitsvorsorge
Emmrich ist mehrmals pro Jahr zu medizinischen Hilfseinsätzen auf der Insel unterwegs und kennt die Lage vor Ort gut. Genauso wie sein Kollege am Berliner Charité-Krankenhaus Samuel Knauss. Beide fragten sich, warum so wenig Geld für Gesundheitsversorgung in Madagaskar verfügbar ist, obwohl internationale Organisationen jedes Jahr hohe Millionenbeträge dafür bereitstellen. "Wir haben Studien gefunden, die belegen, dass 40 bis 60 Prozent der Mittel für Gesundheitsversorgung einfach verschwinden oder für andere Zwecke ausgegeben werden", sagt Knauss. Korruption, Misswirtschaft, fehlende Infrastruktur: Gründe für die schlechte Gesundheitsversorgung in Madagaskar und anderen Ländern Afrikas gibt es genug. Aber wie könnte eine Lösung aussehen? Im Rahmen eines von der Charité und dem Berliner Institut für Gesundheitsforschung geförderten Innovationsprogramms begannen die beiden Mediziner, nach Lösungen zu suchen.
Mit einem internationalen Team von Ärzten, Softwareentwicklern, Wirtschaftsexperten und vielen ehrenamtlichen Helfern begannen Emmrich und Knauss, eine neue IT-Infrastruktur für Madagaskar aufzubauen, durch die Patientinnen und Patienten, Gesundheitszentren und Geldgeber direkt miteinander verbunden werden sollen. "Eine Krankenversicherung gibt es in Madagaskar nicht", erläutert Emmrich. "Viele wussten bislang einfach nicht, wie sie für ihre Gesundheitsversorgung sparen sollen." Denn Bankkonten haben die wenigsten Madagassen. Geld zu Hause in einem Strumpf zurückzulegen, wäre viel zu unsicher, weil Bargeld schnell gestohlen werden kann. Das inzwischen mTOMADY (Madagassisch für gesund) genannte Projekt will den Menschen eine sichere Möglichkeit geben, Geld für ihre Gesundheitsversorgung zu sparen - durch eine mobile Geldbörse fürs Handy.
Low-Tech, unbürokratische Hilfe
"Man braucht dafür kein Smartphone und auch keine Internet-Verbindung", erläutert Knauss. Es reiche jedes noch so alte Handy. "Überall sitzen Händler, die kleine Rubbel-Karten verkaufen. Wenn die Käufer den freigelegten Code eingeben, können sie damit das eingezahlte Geld direkt per Handy auf unser Gesundheitskonto schicken." Durch Ihre Low-Tech-Lösung per Mobilfunk hat praktisch jeder in Madagaskar Zugang zum neuen Gesundheitskonto. "Seit wir im Oktober gestartet sind, haben schon über 500 Schwangere Geld auf ihre Gesundheitskonten eingezahlt", freut sich Emmrich. Und darauf ist er besonders stolz: "Über das Gesundheitskonto konnten wir inzwischen die Geburt von 20 Babys finanzieren."
Die 23-jährige Felana brachte am 7. Januar einen kleinen Jungen zur Welt. Auch sie nutzte das mobile Sparbuch. "Ich arbeite nicht, mein Mann ist Bauleiter. Von mTOMADY habe ich erst erfahren, als ich im neunten Monat schwanger war. Es gab Komplikationen, ich habe eine Ultraschall-Untersuchung gemacht. Dann habe ich mich entschieden, beizutreten." Auf ihre eigene Einlage von 60.000 Ariary schlug eine deutsche Stiftung noch einmal die Hälfte drauf - eine Zuschussregelung speziell für Schwangere als Anreiz, damit möglichst viele mitmachen.
Abrechnung per Gesundheits-Cloud
Weil viele Patientinnen und Patienten in Madagaskar und anderen Ländern Afrikas vorab nie wissen, wie viel sie für eine Behandlung zahlen müssen, gehen sie oft lieber gar nicht zum Arzt. Die Gefahr, die ganze Familie durch zu hohe Gesundheitskosten zu ruinieren, ist ihnen einfach zu groß. Zum Projekt gehören deshalb neben dem mobilen Gesundheitskonto auch noch ein Qualitätsmanagement für die beteiligten Kliniken. Dazu wurde neben medizinischen Qualitätskriterien auch ein Kostenrahmen für jede Behandlung eingeführt. "So einen Kostenrahmen gab es zwar theoretisch vorher auch schon", sagt Knauss mit einem Schmunzeln. "Nur haben sich wenige Kliniken daran gehalten."
mTOMADY hat sich deshalb dazu entschlossen, nicht nur die eingesammelten Gelder von den mobilen Gesundheitskonten der Patienten an die Bankkonten der Gesundheitszentren weiterzuleiten. Die Mediziner prüfen nach eigenen Angaben auch, ob die Abrechnung stimmt und die Behandlungskosten im Rahmen geblieben sind. "Über ein Gateway senden die Mobilfunkanbieter in Madagaskar die Daten der Gesundheitskonten direkt an unser Abrechnungssystem im Internet", erläutert Niklas Riekenbrauck. "So können wir über unsere Gesundheitscloud alle Zahlungen direkt verwalten und die Behandlungkosten einsehen." Der Softwareentwickler hat dazu die erste direkte Verbindung zwischen den Mobilfunksystemen in Madagaskar und dem Internet aufgebaut. "In anderen Ländern gibt es solche Schnittstellen schon lange", sagt Riekenbrauck. "Wir waren die Ersten, die dafür eine Genehmigung der Regierung von Madagaskar erhalten haben."
Kliniken sollen vom Qualitätsmanagement profitieren
Für die Kliniken, die jetzt schon mit mTOMADY zusammenarbeiten, ist der Effekt nach Angaben des Projektteams deutlich spürbar. "In einigen Fällen ist die Zahl der Geburten pro Monat von 5 auf 60 gestiegen - noch bevor unser Gesundheitskonto freigeschaltet war", sagt Emmrich. Eine Krankenhauskette habe sich bereits beworben, bei den mobilen Sparbüchern mitmachen zu dürfen.
Mitarbeit: Philipp Sandner