Drohen Ägypten "libanesische Zeiten"?
30. Januar 2023Für viele Ägypter gestaltet sich das Einkaufen von Lebensmitteln mittlerweile als große Herausforderung. Seit sich die ägyptische Währung im freien Fall befindet, haben sich auch die Lebensmittelpreise verdoppelt, die Gehälter aber halbiert.
"Anstatt drei Kilogramm Reis zu kaufen, wenn wir einkaufen gehen, holen wir nur ein Kilo oder ein halbes Kilo", erklärt Ahmed Hassan, 40. Er ist Buchhalter und dreifacher Familienvater aus dem Kairoer Stadtteil Schoubra. "Wir versuchen, unsere Ausgaben zu reduzieren. Leider können wir nicht alles einschränken, denn unsere Kinder brauchen bestimmte Dinge", sagt er der DW.
Die ägyptische Währung hat seit Ende Oktober 2022 rund ein Drittel ihres Wertes verloren. Die Inflation liegt derzeit bei über 20 Prozent. Einige Wirtschaftsexperten vermuten sogar, dass sie in Wirklichkeit noch höher liegt: Sie gehen davon aus, dass die inoffizielle Rate - die auch den riesigen informellen Wirtschaftssektor Ägyptens mit einschließt - 101 Prozent beträgt.
Mittlerweile beschränken die Banken die Höhe der Bargeldabhebungen. Der freie Fall, in dem sich Ägyptens Wirtschaft befindet, hat Ähnlichkeiten mit der katastrophalen Wirtschaftskrise, mit der die Bürger im Libanon seit 2019 zu kämpfen haben.
"Bemerkenswerte Ähnlichkeiten" zwischen Libanon und Ägypten
Im Libanon haben einige Bürger ihre Banken gestürmt, um an ihre eigenen Ersparnisse zu kommen. Ganze Städte sind dunkel, weil der Treibstoff für die Kraftwerke ausgegangen ist. Und die Mittelschicht des Landes wird immer weiter in die Schulden getrieben.
In Ägypten ist das derzeit noch nicht der Fall. Aber angesichts der sich verschlechternden Lage fragen sich einige: Könnte Ägypten bald "der neue Libanon" werden?
"Es gibt bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen der inzwischen kläglich gescheiterten Wirtschaft des Libanon und der kämpfenden Wirtschaft Ägyptens", so Robert Springborg, außerordentlicher Professor an der kanadischen Simon Fraser University, in einem Bericht aus dem Jahr 2022 für die in Washington ansässige gemeinnützige Organisation Project on Middle East Democracy (POMED). "Die Folgen des Zusammenbruchs des Vertrauens im Libanon waren verheerend, aber sie würden bedeutungslos werden, wenn sich dasselbe im ägyptischen Maßstab wiederholen würden", warnte er.
Die derzeitigen wirtschaftlichen Probleme Ägyptens sind das Ergebnis einer Reihe interner Probleme - politische Unruhen, Korruption und Misswirtschaft der Regierung. Doch in jüngster Zeit haben sich auch externe Krisen dazu gesellt: die COVID-19-Pandemie, der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die drohenden weltweiten Rezessionen.
Mehrere Krisen überlagern sich
Die Corona-Pandemie hat dem Tourismus, der eine der wichtigsten Einnahmequellen des Landes ist, schwer zugesetzt. Seit in der Ukraine der russische Angriffskrieg tobt, bleiben auch die Weizenlieferungen aus der Ukraine aus. Dabei ist Ägypten der größte Weizenimporteur der Welt.
Seit 2014 hat die ägyptische Regierung unter der Führung von Präsident Abdel Fattah al-Sisi nationale "Megaprojekte" gefördert. Dazu gehört die längste fahrerlose Einschienenbahn der Welt im Wert von umgerechnet 21 Milliarden Euro und der Bau einer völlig neuen Verwaltungshauptstadt bei Kairo für 46 Milliarden Euro. Diese Projekte haben das Wachstum des Landes künstlich angekurbelt. An vielen dieser gewinnbringenden Geschäfte sind auch ägyptische Militärs beteiligt.
Eine solche Politik, die es staatlichen und militärischen Unternehmen erlaubt, die Wirtschaft zu dominieren, schwächt allerdings den Privatsektor. Das hat dazu geführt, dass ausländische Investitionen abgeschreckt wurden, so dass sie kaum noch investieren wollten. Dabei ist das Land immer stärker von ausländischen Krediten abhängig. Ägypten hat Schulden in Höhe von über 138 Milliarden Euro; etwa ein Drittel seines gesamtwirtschaftlichen Einkommens muss für die Tilgung der Auslandsschulden verwendet werden.
Pandemie und der Krieg gegen die Ukraine
Diese Gemengelage habe Ägypten "an den Rand eines finanziellen und wirtschaftlichen Abgrunds" gebracht, erklärte Rabah Arezki Anfang Januar. Arezki ist ehemaliger Chefökonom der Weltbank und war zuständig für den Nahen Osten und Nordafrika.
"Der Grund, warum die Pandemie und der Krieg in der Ukraine so große Auswirkungen hatten, liegt in der Investitionsstrategie, die (Ägyptens Präsident, Anm. d. Red.) al-Sisi neun Jahre lang verfolgt hat: Massive Ausgaben für riesige Projekte, von denen einige völlig unnötig oder schlecht durchdacht waren", so Yezid Sayigh, Senior Fellow am Carnegie Middle East Center in Beirut,. "Das hat die ägyptischen Finanzen sehr verwundbar gemacht, ohne der Wirtschaft echte Vorteile zu bringen."
Ausländische Regierungen, darunter auch die von Deutschland und den USA, tragen eine Mitschuld, so Sayigh. Al-Sisi, sagt er, "hätte Ägyptens Schulden ohne deren direkte Beteiligung nicht um 400 Prozent erhöhen können."
Zwei Nationen - nicht vergleichbar
Es gibt einige Ähnlichkeiten zwischen Ägypten und dem Libanon - die ägyptische Armutsquote nähert sich beispielsweise der libanesischen an. Mindestens 60 Prozent der Ägypter leben in Armut oder an der Armutsgrenze.
"Und dann ist da noch die Bereitschaft der politischen Elite, sich auf Kosten des Staates und der Öffentlichkeit zu bereichern", so Timothy Kaldas, Experte für die politische Wirtschaft Ägyptens und Fellow am Tahrir Institute for Middle East Policy (TIMEP). "Das ist definitiv auch etwas, was die beiden Länder gemeinsam haben."
"Aber trotz einiger Ähnlichkeiten sind Dinge wie Armut und Korruption zahlreichen arabischen Ländern gemeinsam, so dass man keine einfachen Vergleiche ziehen kann", argumentiert Yezid Sayigh vom Carnegie Institute. "Außerdem ist die ägyptische Regierung nicht so korrupt wie die libanesische."
"Trotz aller Probleme befindet sich Ägypten in einer wesentlich stabileren Situation als der Libanon", so Timothy Kaldas von TIMEP weiter. "Es steht nicht am Rande des totalen Zusammenbruchs."
Zum einen verfüge die ägyptische Wirtschaft über mehr potenzielle Geldquellen als die libanesische, so Kaldas - etwa über den Suezkanal, die Tourismusbranche und verschiedene Exportindustrien. Der Libanon sei stärker von den Überweisungen von Libanesen im Ausland abhängig, die vor der aktuellen Krise bis zu einem Viertel des libanesischen Nationaleinkommens ausmachten.
Außerdem gebe es eine ägyptische Führung, mit der man verhandeln könne, so Kaldas. "Im Libanon hingegen wird immer noch um die Wahl eines neuen Präsidenten gerungen."
Der vielleicht größte Unterschied zwischen Ägypten und dem Libanon besteht jedoch darin, dass Ägypten gemeinhin als "zu groß zum Scheitern" angesehen wird. Mit rund 107 Millionen Einwohnern ist es das bevölkerungsreichste Land der Region. Außerdem verfügt es über das stärkste Militär im Nahen Osten. "Ägypten hat das Glück, dass externe Geldgeber Wert auf die Lebensfähigkeit des Staates legen, unabhängig davon, wie schlecht er geführt wird", erklärt Kaldas.
Versprochene Reformen in Ägypten
Mitte Dezember genehmigte der Internationale Währungsfonds (IWF) ein Hilfspaket in Höhe von drei Milliarden US-Dollar für Ägypten. Es ist die dritte derartige Vereinbarung des Landes mit dem IWF seit 2016 und soll Ägypten helfen, mehr Investitionen aus dem Ausland sowie weitere Finanzhilfen anzuziehen. Um das Abkommen abzuschließen, musste die ägyptische Regierung dem IWF mehrere große Zugeständnisse machen. Eines davon ist die Flexibilisierung des Wechselkurses - die darauffolgende rekordverdächtige Abwertung des ägyptischen Pfunds ist unter anderem auf die bisherige Kopplung an den US-Dollar zurückzuführen.
Eine weitere Forderung des IWF ist die Zusage, bis Ende dieses Monats direkte Geldtransfers an fünf Millionen bedürftige ägyptische Haushalte zu senden. Eine weitere Verpflichtung, die Kairo eingegangen ist, war das Versprechen, das riesige Wirtschaftsimperium des ägyptischen Militärs einzuschränken.
Das neue IWF-Rettungspaket könnte Ägypten wieder vom Abgrund zurückholen, aber es ist schwer zu sagen, ob es wirklich Erleichterung für die leidgeprüften Bürger bringt. Kaldas geht davon aus, dass die Regierung und die Eliten des Landes versuchen werden, ihre Vorteile und ihren Reichtum zu sichern, während sie gleichzeitig versuchen werden, sich um Zugeständnisse zu drücken, zum Beispiel wenn es um die Eindämmung der wirtschaftlichen Macht des Militärs ginge.
Aber selbst, wenn alle Bedingungen des IWF-Pakets erfüllt werden sollten, werde sich das Land nicht so schnell erholen, so Kaldas. "Die Ägypter, die ohnehin schon Probleme haben, werden im kommenden Jahr noch ärmer werden", sagt er. Es sei unwahrscheinlich, dass Ägypten der nächste Libanon werde, schlussfolgerte er, "aber nichts wird die wachsende wirtschaftliche Not der Ägypter im kommenden Jahr verhindern".
Mitarbeit: Mohammed Farhan, Kairo