"Drama für die Türkei und die EU"
8. Juni 2016"Die EU-Kommission ist ernsthaft besorgt über die Aufhebung der Immunität von 138 Oppositionsvertretern in der Türkei", sagte EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn am Mittwoch vor dem Europaparlament. Vor rund drei Wochen hatte das Parlament auf Betreiben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mehrheitlich beschlossen, dieser Gruppe die Immunität zu entziehen. Ein Drittel aller türkischen Abgeordneten muss nun mit Strafverfahren rechnen. Betroffen sind vor allem Vertreter der prokurdischen Partei HDP. Das entsprechende Gesetz hatte Erdogan am Dienstag unterzeichnet und in Kraft gesetzt.
Dass der Erweiterungskommissar nun das Missfallen der EU-Kommission übermittelte und nicht etwa die Außenbeauftragte Federica Mogherini oder Vizepräsident Frans Timmermans - der schließlich gegenwärtig die Verhandlungen mit Ankara führt - das zeigt: Brüssel möchte das leidige Thema eher auf kleiner Flamme kochen. Schließlich geht es immer noch darum, die Reste des Flüchtlingsabkommens zu retten. "Die Türkei ist ein Schlüsselpartner beim Management von Migration", heißt es dazu aus Brüssel.
Beitrittsverhandlungen - und weiter?
In einer kleinen Demokratiekunde für Anfänger erläuterte Hahn dann, die Immunität von Abgeordneten dürfe nicht aufgehoben werden, um politischen Druck auszuüben. Und er appellierte an die Türkei, sich wieder den europäischen Werten anzunähern. Dabei sieht der Kommissar die Beitrittsverhandlungen, speziell den Abschnitt über die Justiz, weiter als das beste Mittel, um der Türkei klarzumachen, dass sie auf dem falschen, weil undemokratischen Weg sei.
Nach dieser ziemlich schwachen Vorlage wurde die CDU-Abgeordnete Renate Sommer dann deutlicher: Die Türkei sei auf dem Wege in eine "Präsidialdiktatur", die kurdische Opposition - und nicht nur sie - werde mundtot gemacht, das ganze sei ein "Drama für die Türkei, aber ein noch größeres Drama für die EU". Denn die brauche das Land als verlässlichen Partner. Jetzt aber müsse Europa reagieren und "die Beitrittsverhandlungen ad acta legen".
Türkische Demokratie am Abgrund
Der stellvertretende Parlamentspräsident Alexander Graf Lambsdorff (FDP) geht nicht so weit, erinnert aber an die "Kopenhagen-Kriterien", die Bedingungen für Beitrittsverhandlungen: An erster Stelle werden darin institutionelle Stabilität sowie eine rechtsstaatliche und demokratische Ordnung verlangt. Und diese Basis gebe es in der Türkei nicht mehr. Den Schutz von Minderheiten habe die Regierung abgeschafft durch ihr massives Vorgehen gegen Kurden. Die Richterschaft sei politisiert, die Presse mundtot gemacht, die Gewerkschafen und andere soziale Bewegungen eingeschüchtert, die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Aus dieser Aufzählung von Verstößen gegen demokratische Grundsätze die Folgerung zu ziehen, überlässt der deutsche Liberale allerdings dann seinen Zuhörern.
Eine der entschiedensten Stimmen kam von der Linken Gabi Zimmer: "Ich bin fassungslos, dass es möglich ist, in Europa so ein Klima von Angst und Einschüchterung zu schaffen", wie Erdogan das in der Türkei tue. Das Land habe den Weg zu einem demokratischen System verlassen. Zimmer erinnerte auch daran, dass unter den türkischen Abgeordneten, deren Immunität jetzt aufgehoben worden ist, auch Leyla Zana ist, die vom Europaparlament mit dem Sacharow-Preis für ihren Kampf für die Meinungsfreiheit ausgezeichnet worden war. Darüber hinaus ist auch Feleknas Uca betroffen, vor ihrem Umzug in die Türkei eine langjährige Vertreterin der deutschen Grünen im Europaparlament. Sie allein werde jetzt von Erdogan mit sieben Prozessen verfolgt.
Visafreiheit ist vom Tisch
Die EU-Kommission und das Parlament hatten alles getan, um diese Debatte tiefer zu hängen. Sie wurde auf einen wenig prominenten Zeitpunkt am Abend verlegt und es sprachen überwiegend Vertreter aus der zweiten Reihe der Fraktionen. Eines allerdings wurde klar: Die Visaliberalisierung, der das Europaparlament zustimmen muss, ist vom Tisch. Dafür wird es fraktionsübergreifend keine Mehrheit mehr geben.
Am Schluss warb Kommissar Johannes Hahn noch einmal für die Realpolitik. Die Türkei sei ein wichtiger Nachbar, man müsse sich mit ihr weiter auseinandersetzen. Allerdings befürchtet sogar er, dass die EU ihre Zeit verschwenden könnte, wenn sie die Erweiterungsverhandlungen fortsetzt. Erdogan müsse jetzt erklären, "ob er es ernst mit uns meint, oder nicht".
Eine Reihe von Parlamentariern warnte auch davor, den Konflikt mit den Kurden weiter zu verschärfen. Eine beherzte Solidaritätsadresse für die Abgeordneten der HDP in der Türkei und ein politischer Warnschuss Europas an Präsident Erdogan war diese Debatte allerdings nicht.