Doping Republik Deutschland
4. April 2017Mehrere Studien und eine Doktorarbeit lassen keine Zweifel offen: Deutsche Leistungssportler waren jahrzehntelang gedopt - organisiert und mit System. Nicht nur in Ost-Deutschland, der ehemaligen DDR - nein, auch im Westen, der BRD. Was bedeutet das im Rückblick auf die erreichten Leistungen der Deutschen? Und was bedeutet das für den heutigen Spitzensport in Deutschland?
Offensichtlich wurde mit allen Mitteln versucht, das Optimum zu erreichen und den (innerdeutschen) Konkurrenzkampf auf die Spitze zu treiben. Medaillen um jeden Preis. Doch was sind diese heute noch wert? Während die Dopinggeschichte der DDR schon lange dokumentiert und bekannt war, stellte nicht nur die Studie der Humboldt-Universität zu Berlin "Doping in Deutschland von 1950 bis heute" fest: Spätestens seit den 1970er Jahren gab es auch in Westdeutschland strukturiertes Doping, war Alltag im Spitzensport, könnte sogar mit Steuermitteln gefördert worden sein. Selbst Minderjährige sollen gedopt worden sein.
Ärzte waren Teil des Doping-Systems
Sportärzte wie die Freiburger Sportmediziner Joseph Keul (mittlerweile verstorben) und Armin Klümper spielten dabei eine zentrale Rolle: Sie setzten sich für den Einsatz anaboler Steroide ein, obwohl sie um die Gefahren für die Sportler wussten. Andreas Singlers Studie "Armin Klümper und das bundesdeutsche Dopingproblem" untermauerte die Dopingpraktiken Klümpers, die "weit über das bekannte Maß hinausgehen."
Der "Klümper-Cocktail", der eine Vielzahl von Substanzen erhielt, wurde demnach über Jahrzehnte an zahlreiche Sportler verabreicht - und sorgte für Weltrekorde, Medaillen und Spitzenleistungen, die ansonsten nicht denkbar gewesen wären. "Ohne politische Unterstützung und ohne ein breites institutionelles Stillhalten", etwa von Strafverfolgungsbehörden, Deutschem Sportbund, Nationalem Olympischen Komitee und Bundesinnenministerium, sei Klümpers Wirken nicht dauerhaft zu realisieren gewesen, erklärte Slinger der dpa.
Verordnetes Staatsdoping auf der einen Seite, geduldetes auf der anderen. Auch die am Dienstag veröffentlichte Doktorarbeit von Simon Krivec von der Universität Hamburg kommt zu dem Ergebnis: Anabolika-Doping war im westdeutschen Sport Alltag. Krivec stellt dabei allerdings die Sportler in den Mittelpunkt: 31 Leichtathleten haben ihm gegenüber zugegeben, in den 60er, 70er und 80er Jahren anabole Steroide zu sich genommen zu haben, wollen aber anonym bleiben.
Tipps gab's vom Hausarzt, Medikamente auf Rezept in der Apotheke - bezahlt von der Krankenkasse. Eine weitere Erkenntnis Krivecs Arbeit: "Früher hieß es, man kann nur mit Endkampfchance zu Olympia, heute bekommt man Sportförderung nur, wenn man eine Medaillenchance hat. Das ist fast gleich, die Wortwahl ist vielleicht etwas anders."
Dilemma für die Athleten
In dasselbe Horn stößt im DLF einer der Betroffenen von damals, einer, der nicht anonym bleiben wollte: Diskuswerfer und zweimaliger Olympiateilnehmer Klaus-Peter Hennig. "Auf der einen Seite will ich selber Leistung verbessern, hohe Leistung schaffen. Die Olympiateilnahme schaffen. Auf der anderen Seite weiß ich, dass das ohne unterstützende Mittel eigentlich nicht geht. Das ist ein Dilemma, in dem wir damals waren und in dem die Athleten heute auch sind."
Denn man muss die Frage stellen: Welche Rolle spielt bei dieser Diskussion die Reform der Spitzensportförderung, die vom DOSB und Geldgeber BMI durchgeführt wurde? Ihr Ziel: Mehr internationaler Erfolg. Und so werden künftig Sportarten mit Medaillenchance besser gefördert als andere. Deutsche Sportler stehen angesichts des weltweiten Dopings wieder, immer noch, vor einem Dilemma: Soll ich dopen, um erfolgreich zu sein, um überhaupt wettbewerbsfähig zu sein?
Scheinheiligkeit und Ignoranz
Natürlich ist die deutsche Dopingvergangenheit aktuell ein großes Thema. Wissenschaftler enthüllen, investigative Sportjournalisten decken schmutzige Doping-Wahrheiten auf, das Thema entfacht Diskussionen und erhitzt die Gemüter. Sport-Deutschland empört sich. Aber was geschieht konkret? Nichts, kritisieren Experten wie der Heidelberger Molekularbiologe Werner Franke.
Er staunt gegenüber dem sid über den "Widerhall, den diese Studien jetzt verursacht haben", denn das, was nun veröffentlicht wurde, sei längst bekannt, auch durch seine eigenen Veröffentlichungen 1977. "Dass jetzt wieder alles aufs Neue diskutiert wird, ist für mich auch eine Form von Scheinheiligkeit und Ignoranz." Seine Frau Brigitte Berendonk habe schon 1991 in ihrem Buch "Von der Forschung zum Betrug" darüber geschrieben und auch Namen genannt. Von Aufklärungswillen des Bundesinnenministeriums und des DOSB, bzw. seinem Vorgänger DSB, sei bis heute nicht viel zu spüren - und das, obwohl Doping längst ein gesellschaftliches Problem ist.
"Kein Interesse zur Veränderung"
Ähnlich sieht es Perikles Simon von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz: "So wie diese Arbeit festhält, dass die Funktionäre mit die schlimmsten Heuchler waren, die ihrerseits manchen Athleten sogar die volle Doping-Unterstützung angeboten haben, so müssen wir davon ausgehen, dass genau dieses auch heute noch der Fall ist. Und das ist die entscheidende Botschaft dieser Arbeit", sagte er im Interview mit der DW.
Simon fordert von DOSB-Präsident Alfons Hörmann, ein Kontrollgremium hinzuzuziehen, das international Unabhängigkeit besitzt und die Vergangenheit aufklären soll. Und er stellt der deutschen (Sport-)politik ein Armutszeugnis aus: "Wir sind schon ganz schön schwach in der Aufarbeitung. Gemessen an dem, was schon seit 20 Jahren im Orbit kreist, fehlt es ja komplett an Maßnahmen und Reaktionen darauf. Es wird immer nur schockiert getan, wenn das kommt, was Herr Krivec einmal mehr zutage getragen hat. Das ist komplett inakzeptabel. Es ist klar, dass wir überhaupt kein Interesse zur Veränderung haben."