Ein Jahr nach Donezk-"Referendum"
11. Mai 2015"Tag der Republik" steht auf gigantischen Plakaten. Daneben ein Datum: "11. Mai", eine schwarz-blau-rote Fahne und ein doppelköpfiger Adler. So feierte man am Montag in Donezk, der Hochburg prorussischer Separatisten, die "Staatsgründung". Auf den Straßen spielte Musik, und es gab eine Demonstration. Rund 30.000 sollen nach Veranstalterangaben daran teilgenommen haben. Olha, eine Lehrerin, war dabei. "Man hat uns gesagt, wir müssten hingehen", sagt sie. "Doch niemand ist im Grunde dagegen." Die neuen Machthaber hätten Lohnschulden zurückgezahlt. "Alle Lehrer sind zufrieden."
Russland schließt Anerkennung nicht aus
Die Bewohner der an Russland grenzenden ostukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk stimmten vor einem Jahr über eine Abspaltung von Kiew ab. Die sogenannten "Volksabstimmungen" wurden von bewaffneten prorussischen Separatisten organisiert, die in den Monaten zuvor die Macht ergriffen hatten. Nach deren Angaben haben rund 90 Prozent für eine "staatliche Eigenständigkeit" gestimmt. Die Abstimmung war illegal, denn ukrainische Gesetze sehen ein lokales Referendum nicht vor. Auch die Ergebnisse dürfen bezweifelt werden, da es keine unabhängigen Wahlbeobachter gab.
Einen Tag nach der Abstimmung erklärten sich beide Gebiete für unabhängig und gründeten "Volksrepubliken". An deren Spitze tauchten Aktivisten aus Moskau auf wie der "Ministerpräsident" Alexander Borodaj. Weder die Regierung in Kiew noch das Ausland erkennen die "Volksrepubliken" an. Russland dagegen schließt eine Anerkennung nicht aus. "Wir werden auf die Realität schauen", sagte in einem Interview vor wenigen Wochen Präsident Wladimir Putin.
Vorwürfe gegen Kiew
Vor der Krise lebten rund sieben Millionen Menschen in beiden Gebieten. Heute sind nach diversen Schätzungen weniger als die Hälfte davon in den Teilen geblieben, die von Separatisten kontrolliert werden. Millionen sind entweder nach Russland oder in andere Regionen der Ukraine geflüchtet. Geblieben sind meistens die Menschen, die mit den Separatisten sympathisieren oder keine Mittel zum Wegziehen haben.
Wie genau die Stimmung heute in den Gebieten ist, kann man schwer einschätzen. Viele Menschen wollen aus Angst weder ihren Namen nennen noch die neuen Machthaber kritisieren. Tetjana aus Donezk gibt zu, bei dem "Referendum" vor einem Jahr mit einem "Ja" gestimmt zu haben. Heute sagt sie, sie habe mehr Autonomie, aber keine Abspaltung gewollt. Für den seit einem Jahr tobenden Krieg und die vielen Toten beschuldigt die 50-jährige Frau die ukrainische Regierung. Kiew habe Donezk keine Autonomie geben wollen. Mit der jetzigen Lage sei sie zufrieden.
Ein Geschäftsmann, der anonym bleiben möchte, sagt dagegen, er sei von der Donezker "Volksrepublik" eher enttäuscht. "Ich bin zum Referendum gegangen, weil ich auf Verbesserungen gehofft habe", sagt der Mann. "Doch es kam anders: Es kam der Krieg, und die neuen Machthaber laufen mit Maschinengewehren herum." Überall herrschten Armut und Arbeitslosigkeit, sagt er.
Zustimmung für Separatismus verdoppelt
Die ukrainische Regierung habe kaum eine Vorstellung über die wahre Stimmung in den von Separatisten kontrollierten Gebieten, sagt Wolodymyr Paniotto, Direktor des Kiewer Instituts für Soziologie (KMIS). Sein Institut befragte im März Menschen auf beiden Seiten des Konflikts. In dem von Kiew kontrollierten Teil der Ostukraine wollten sich nur acht Prozent der Befragten von Kiew abspalten. In den abtrünnigen Regionen waren es dagegen 42 Prozent. Das sind doppelt so viele wie vor einem Jahr.
Allerdings gibt es in den beiden "Volksrepubliken" eine Mehrheit – rund 50 Prozent – für den Verbleib in der Ukraine. Man kann davon ausgehen, dass auch viele von den mehr als einer Million Binnenflüchtlingen gegen eine Abspaltung von ostukrainischen Gebieten sind. Es sind Menschen wie Switlana Sakrewska von der Nichtregierungsorganisation "Allianz", die sich um Binnenflüchtlinge kümmert. Sakrewska stammt selbst aus Donezk und lebt heute in Kiew.
Leben im Heute
"Diejenigen, die Donezk verlassen mussten und die in ihrer Seele für die Ukraine sind, möchten, dass illegale bewaffnete Verbände Donezk verlassen und wir nach Hause zurückkehren", sagt sie. Sakrewska meint, ukrainische Politiker hätten den Separatismus vor einem Jahr stoppen können. "Sie hätten in jedes Haus gehen und jede Hand schütteln sollen", sagt die Frau. "Doch sie waren mit Machtverteilung beschäftigt". Die "Volksabstimmungen" in der Ostukraine fanden zwei Wochen vor der vorgezogenen Präsidentschaftswahl statt. Heute wagt sie nicht, in die Zukunft zu schauen, genauso wie Olha, die Lehrerin aus Donezk: "Ich weiß nicht, ob und wann der Krieg endet." Sie lebe nur im Jetzt.