DOK Leipzig: Jüdisch-arabische Identitätssuche
30. Oktober 2021Sorgsam kämmt sich Cléo Cohen das Haar mit einem breiten Kamm und schaut dabei in die Kamera. Aus den wohl geformten Locken wird ein riesiger Wuschelkopf, kraus und wild. Eine junge Frau auf Identitätssuche: Ist sie Jüdin? Oder Araberin? "In meiner Familie sprechen einige Arabisch, mögen aber keine Araber. Wir sind Juden, aber wir gehen nicht in die Synagoge", erzählt die 28-Jährige im DW-Gespräch.
"May God Be with You" lief beim gerade zu Ende gegangenen Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (DOK Leipzig) im Internationalen Wettbewerb und gewann den Preis der Interreligiösen Jury. Für ihren ersten langen Dokumentarfilm begibt sich die französische Regisseurin auf eine sehr persönliche Reise: Sie trifft sich wieder und wieder mit ihren Großeltern, konfrontiert sie mit deren Vergangenheit - sucht nach Antworten für ihre eigene Zerrissenheit in der dritten Generation: "Ich fühlte mich immer zwischen meinem jüdischen Nachnamen und meinem 'arabischen Gesicht' zerrissen."
Ihre jüdischen Großeltern sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits wurden in Nordafrika geboren, in Tunesien und Algerien. Dort wuchsen sie als Teil der Gesellschaft auf - als mal mehr, mal weniger tolerierte Minderheit. Mit der Gründung Israels 1948, dem steten israelisch-palästinensischen Konflikt und dem Sechs-Tage-Krieg 1967 änderte sich dieses Zusammenleben schlagartig: Nachbarn waren zu Feinden geworden. Seitdem ist die jüdische Gemeinde in Tunesien von rund 100.000 Juden auf etwa 1500 geschrumpft, in Algerien gibt es faktisch keine Juden mehr - dort lebten zuvor 140.000 Juden.
Jüdische, nordafrikanische Identitäten
"Zeigst Du mir Deinen tunesischen Pass?", fragt Cléo Cohen ihre Großmutter Denise, die in dem nordafrikanischen Land geboren wurde. "Wenigstens von Weitem." Denise verweigert es einsilbig und vehement. Cohens Frustration darüber ist deutlich zu hören. Juden aus ehemals "Französisch-Nordafrika" konnten mit der Unabhängigkeit der Maghreb-Staaten in den 1950er- und 1960er-Jahren mit französischem Pass nach Frankreich fliehen. Über ihre Herkunft sprechen Cléos Großeltern nicht, dabei kommt sie spätestens dann immer wieder zum Vorschein, wenn eine der Großmütter davon schwärmt, ein köstliches Couscous zu kochen.
Keiner ihrer Großeltern ist seitdem zurückgekehrt - und die Enkelin rennt immer wieder gegen eine Art Mauer, wenn sie darüber sprechen möchte. Über Heimat. Über Kindheit. Über den Hochzeitstag, der mit der Trauung am Morgen begann und mit der Ausreise am Abend endete. "Ich spürte immer ihre Nostalgie oder eine Art Traurigkeit, wusste aber gleichzeitig nicht, woher sie kam", erzählt Cohen. "Und ich glaube, dass es besonders für Juden schwierig ist, nostalgisch zu sein, weil sie doch eigentlich glücklich sein sollten, in Frankreich zu sein, auch wenn sie sich in dem Leben, das sie hier geschaffen hatten, sehr allein fühlen."
Cohens Film nähert sich beobachtend den Großmüttern und Großvätern - als ob sich die Kamera vorsichtig an scheue Menschen herantasten würde. In Standbildern porträtiert sie Alltagssituationen wie Nähen oder Gärtnern. In einer Szene föhnt Oma Denise ihrer Enkelin das Haar, reißt daran, glättet mit einer Rundbürste. "Jetzt sieht es schön aus", sagt sie schließlich zufrieden, während Cléo skeptisch die Föhnfrisur betrachtet. Ein wiederkehrendes Symbol: Die schwarzen, nordafrikanischen Locken glätten, nicht auffallen, anpassen. Ihre Haare habe sie immer blond gefärbt, erzählt Denise ihrer Enkelin. Und so oft geglättet, dass sie nun keine Locken mehr habe. Dieser Satz, sagt Cléo, sage so viel über ihre Familiengeschichte aus.
Dritte Generation kehrt nach Tunesien zurück
Eine weitere wichtige Person ist Großvater Richard. Aufgrund einer Parkinson-Erkrankung lebt er in einem Pflegeheim, kann kaum sprechen oder sich bewegen. Cléo besucht ihn immer wieder und liest ihm ihre niedergeschriebenen Gedanken vor. Vor seinem Exil nach Frankreich war er stark in der algerischen Gemeinschaft verwurzelt, kämpfte mit für Algeriens Unabhängigkeit.
In einem ihrer aufgeschriebenen und vorgelesenen Monologe schildert Cléo einen Streit, den sie in der Familie über den israelisch-palästinensischen Konflikt hatte. Immer wieder eckt die 28-Jährige an, wenn sie daran appelliert, auch die andere Seite zu verstehen. "Du hättest mich doch verteidigt, oder Richard?" fragt sie aufgewühlt den stummen Großvater, dessen Sprachlosigkeit ein weiteres eindrückliches Symbol des Filmes ist. Nach einer kurzen Weile streckt er ihr langsam die Hand entgegen, Cléo kommt hinter der Kamera hervor, umarmt ihn.
Im zweiten Teil des Filmes reist Cléo als erste ihrer Familie seit dem Exodus nach Tunesien - ihre Oma Denise stets am Handy dabei. "Hast du die Türen und Fenster geschlossen?"; "Pass auf dich auf!". Die Großmutter leitet sie durch die Straßen, beschreibt - obwohl sie seit mehr als 50 Jahren nicht mehr da war - Wohnhäuser und vertraute Orte. Endlich bringt sie dabei ihrer Enkelin auch Arabisch bei, verbessert ihre Aussprache. Und einen besonderen Duft solle sie ihr mitbringen, der böse Geister vertreibe. Den noch einmal riechen!
Politischer Film zum aufgeheizten Nahost-Konflikt
Während Cléo nicht locker lässt, verändert sich vor allem auch Denise zusehends während der Dreharbeiten. Dank des Interesses der Enkelin scheint auch in ihr aus der Nostalgie eine eher freudige Erinnerung geworden zu sein. Eines Tages möchte sie mit ihrer Enkelin gemeinsam nach Tunesien fahren, sagt sie. Gerührt nimmt sie die Geburtsurkunde ihrer Mutter entgegen, die Cléo in Tunesien aufgespürt hat, staunt über die früheren arabischen Namen, die ihr unbekannt waren. "Durch meine Reise können wir etwas Gemeinsames teilen. Das war wirklich gut für unsere Beziehung - wir sind uns noch näher gekommen."
Natürlich sei ihr Film nicht nur eine Familiengeschichte, sondern ein politischer Film. "Ich weiß jetzt, dass ich sowohl arabisch als auch jüdisch sein kann. Wenn das alle verstehen würden, könnten wir viele Probleme lösen."